Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
»Sie haben einfach zugehauen. Immer wieder.« Nach einem kurzen Moment schrie sie voller Hass: »Wie von Sinnen haben sie auf ihn eingeprügelt. Ich hab versucht sie wegzuziehen, aber …«
»Sie hätten nichts …« Tessa kam nicht zu Wort.
»Jens krachte mit dem Kopf auf die Bank. Nie werde ich das vergessen. Es knackte, als ob ein trockener Ast bricht. Und das viele Blut. Es ging alles so schnell. Warum hat die Polizei die Täter noch nicht? Ich hab denen gesagt, wie die Kerle aussahen. Diese Mörder.«
Koster war etwas mulmig zumute, schon so bald wieder mit dem Psychologen zu sprechen. Er war sich immer noch seiner Worte bewusst. Ich werde hier sein, wenn Sie mit mir reden möchten. Er hatte das Gefühl gehabt, dass Paul Nika seine persönliche Krise erspürt hatte. Das war natürlich Unsinn, aber …
Gestern Abend war er zu spät nach Hause gekommen. Jasmin hatte ihm eine Szene gemacht und angekündigt, dass sie mit den Kindern für ein paar Tage zu ihren Eltern fahren würde. Er hatte sie nicht umstimmen können. Sie wollte Abstand. Abstand zu ihm, um über ihre Ehe nachzudenken. Nun, vielleicht hatte sie recht?
Auf dem Weg zu Nikas Büro hielt er Ausschau nach dem Mädchen mit den aufgeritzten Armen und Beinen. Aber er konnte sie nicht entdecken. Die Gänge waren seltsam leer. Wie ausgestorben. Er musste über seinen Freud’schen Versprecher lächeln. Gut, dass die Seelenklempner das nicht gehört hatten. Es hätte eine wahre Orgie an Deutungen ausgelöst, die sicher alle darauf hinausliefen, dass mit seinem Seelenheil etwas ganz und gar nicht stimmte.
Fast wäre er mit Kurt Mager zusammengestoßen. Mager starrte ihn entsetzt an.
»Hab ich Sie berührt? Sind Sie verletzt? O Gott, das wollte ich nicht.« Aufgeregt knetete Mager seine Hände.
»Nein, nein, alles in Ordnung. Wir haben uns nicht berührt. Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.« Koster versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Mager schaute sofort weg, als ihre Blicke sich kreuzten.
»Waschen Sie sich. Sie müssen schnell mit Sterillium spülen, das desinfiziert. Gehen Sie, schnell, schnell, schnell.« Er verhaspelte sich, als er immer schneller sprach.
Koster verharrte stumm. Ein erwachsener Mann. Ein Kerl Anfang fünfzig, der plötzlich zum hysterischen Nervenbündel mutierte, weil er glaubte, Koster berührt und mit wer weiß was angesteckt zu haben. Koster fiel nichts ein, womit er ihn beschwichtigen konnte. Plötzlich drehte sich Mager um und ging einfach weg. Ließ ihn ohne eine Erklärung stehen. Nun verstand er gar nichts mehr.
Seufzend schaute sich Koster um. Er stand auf Höhe des Lagerraumes mit dem Lastenfahrstuhl, in dem man Gabriele Henke gefunden hatte. Drückte Mager sich schon wieder in Tatortnähe rum?
Der Angriff auf die Patientin war sicher nicht geplant gewesen, sonst hätte der Täter einen anderen Ort gewählt. Da hier die Getränkekisten für die Patienten lagerten, hätte jederzeit jemand hereinkommen können. Was, wenn Gabriele Henke geschrien hätte. Damit wäre der Täter ein großes Risiko eingegangen. Nein, Koster war sich sicher, diese Tat war nicht geplant. Das deutete auf eine gewisse Enthemmung des Täters hin. Oder eine besondere Kaltblütigkeit? Denn andererseits waren es vom Lagerraum nur wenige Schritte bis zur Eingangstür der Station. Jeder Fremde hätte gute Chancen gehabt, unbemerkt in den Raum rein- und wieder rauszukommen. So kamen sie nicht weiter. Er setzte seinen Weg über die Station fort.
Er hatte Glück. Das Schild Bitte nicht stören – Therapiegespräch , welches Koster schon einmal an Nikas Tür gesehen hatte, hing gerade nicht. Er klopfte und hörte kurz darauf jemanden »Herein« rufen. Langsam öffnete er die Tür. Paul Nika saß hinter seinem Schreibtisch und schrieb. Seine Brille war halb die Nase heruntergerutscht. Er blickte auf und lachte Koster an.
»Erlösen Sie mich von den Formularen. Die Bürokratie treibt mich in die Frühpensionierung«, sagte er und wies auf die Sitzgruppe.
»Ich habe gestern mit Ihrer Kollegin und dem Patienten Brömme gesprochen. Ich hätte gerne mehr über ihn erfahren. Immerhin hat jemand seine Mutter ermordet.«
»Setzen Sie sich doch erst mal. Zigarette?«
Tessa sah die Frau, die in grüner OP-Kleidung auf sie zusteuerte, zuerst.
»Mein Name ist Miriam Müller-Sievers. Ich bin die behandelnde Ärztin. Sind Sie die Ehefrau?«, fragte sie an die aufgelöste Frau gewandt. Die Ärztin mit dem blonden Pagenkopf gab beiden die Hand und sprach
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