Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Stimmung. Ein Holzsarg war in der Mitte der Kapelle aufgebahrt. Geschmückt mit weißen Rosen und weißen Gerbera. Schlicht und schön. Das kleine Herz aus hellblauen Vergissmeinnicht war sicher von ihrem Enkel. Leises Gemurmel erklang von den bereits anwesenden Trauergästen, die in den Bänken miteinander tuschelten. Wie viele unter ihnen waren gekommen, um von Gabriele Henke Abschied zu nehmen? Es waren sicher auch Neugierige dabei. Die es nicht erwarten konnten, zu hören, was der Pastor über den Mord predigen würde. Dachten sie in ihrer Sensationsgier an die Tochter und den Enkelsohn? Vermutlich nicht.
Dabei gehörte der Tod zum Leben dazu. Das wollten die wenigsten wahrhaben. Tessa hatte die Erfahrung gemacht, dass es ihr guttat, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Auch deshalb half sie im Kriseninterventionsteam. Heute musste sie sich erstmals von einer Patientin verabschieden, die in ihrer Obhut ums Leben gekommen war. Deren Mörder noch nicht gefasst war.
Sie setzte sich alleine in eine der hintersten Bänke. Sie sah Maria Rosenstein mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn in der ersten Reihe sitzen. Der Anblick des vielleicht vier- oder fünfjährigen Jungen in seinem kleinen schwarzen Anzug rührte sie. Plötzlich blitzte ein Bild in ihrer Erinnerung auf. Sascha in einem zerknitterten dunklen Anzug bei der Beerdigung ihres Vaters. Sie konnte sich nur schemenhaft daran erinnern. Seine Hosen waren viel zu kurz gewesen.
Die Trauerfeier begann. Leise erklang eine Musik von so intensiver Schönheit, dass Tessa sofort Tränen in die Augen schossen. Sie erkannte das Largo aus Händels Oper Xerxes. Tränen für Gabriele Henke. Und für einen anderen Toten in ihrem Leben. Für ihren Vater, den sie nie richtig kennengelernt hatte. Für einen Vater, der sich in seiner Verzweiflung das Leben genommen hatte. Jemand setzte sich neben sie. Eine Hand reichte ihr ein Taschentuch. Ein Blick zur Seite bestätigte ihr Kribbeln im Bauch. Es war Torben. Es rührte sie, dass auch er einen schwarzen Anzug trug.
Die Musik verstummte, und der Pastor stand auf, um Maria Rosenstein die Hand zu geben und ihren Sohn zu segnen. Dann begann er zu sprechen: »Gabriele Henke wurde plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen. Sie sind heute hier, weil Sie sich in Trauer von ihr verabschieden müssen. Ich habe lange mit der Tochter Maria gesprochen, und dabei ist mir klar geworden: Gabriele Henke musste in ihrem Leben viel kämpfen. Lassen Sie uns heute dieser Kämpferin gedenken …«
Tessas Gedanken hingen bei ihren eigenen Kämpfen. Der tabuisierte Vater. Weder ihr Bruder noch die Mutter sprachen mit ihr darüber. Sascha hatte versucht, den Mann im Haus zu ersetzen.
Dann wieder die Stimme des Pastors. »In unseren Gesprächen über Ihre Mutter, Frau Rosenstein, offenbarte sich, dass die Depressionen Ihrer Mutter oft alle Kraft geraubt haben mussten. Dennoch hat sie ihre geliebte Tochter alleine großgezogen. Sich keine Schwächen zugestanden. Sie dachte nicht daran, anderen ihre Sorgen aufzubürden. So hat es lange gedauert, bis ihre Tochter Maria sie dazu bringen konnte, die Depression behandeln zu lassen. Dann dieses schreckliche Verbrechen.«
Koster nahm Tessas Hand und ließ sie nicht mehr los.
Der Pastor wandte sich direkt an die Familie. »Den letzten Kampf hat sie verloren. Warum hat sie ihn überhaupt kämpfen müssen? Eine Frage, auf die wir keine Antwort bekommen. Und doch müssen wir Gabriele Henke loslassen. Geben wir ihr unseren innigsten Dank mit auf die Reise. Dafür hat ihr Enkel ihr ein Bild gemalt. Denn Gabriele Henke liebte die Bilder ihres Enkels. Die frohen Farben. Die pure Lebensfreude, sagte sie immer. Lebensfreude, die ihr selber verloren gegangen war. Doch durch die Bilder ihres Enkels bekam sie ein Stück davon zurück. Sie können sich nun von Gabriele Henke verabschieden. Dazu hören wir ein Stück von Chopin, ihrem Lieblingskomponisten.«
Im Hintergrund erklang die zarte Melodie einer von Chopins Nocturnes.
Tessa erlaubte ihren Gedanken, erneut abzuschweifen. Hatte Gabriele Henke geahnt, dass sie sterben musste? Hatte sie große Ängste ausgestanden?
»Gehen Sie in Ihr Leben zurück und vergessen Sie Gabriele Henke nicht. Wenn Sie Schönes erleben, einen Kampf gewonnen haben, lassen Sie Gabriele teilhaben. Sie ist bei Ihnen.«
»Isabell Drost hat sich selbst das Leben genommen«, flüsterte Tessa.
»Ich weiß.« Er drückte ihre Hand und seine Wärme durchflutete sie.
Nach der Feier
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