Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Torben genannt.«
Tessa schwieg. Kämpfte mit sich. Sollte sie es laut aussprechen? Nur einmal?
»Er ist verheiratet. Was soll ich sagen? Gefühle halten sich nicht an Regeln.«
»Wo kommen denn deine Gefühle für ihn plötzlich her? Du kennst ihn doch erst seit einer Woche.«
»Na und? Wie lange braucht man denn? Ich … Vielleicht möchte ich einfach nur eine kurze Zeit alles vergessen. Scheiße, ich weiß es nicht. Meine Gefühle gehen im Moment mit mir spazieren.« Sie seufzte entnervt. »Worüber wolltest du so dringend mit mir sprechen?«
Paul kniff die Augen zusammen. »Nichts weckt so viel Sehnsüchte wie das Unerreichbare.« Ihm war die Betroffenheit anzumerken.
Tessa steckte den Seitenhieb kommentarlos ein. Vielleicht hatte er ja recht. Sie strich sich müde die Haare aus dem Gesicht.
Zögernd redete Paul weiter. »Ich wollte mit dir über Brömme sprechen. Ich brauche deinen fachlichen Rat. Vielleicht irre ich mich, die Ereignisse gehen an uns allen nicht spurlos vorüber«, sagte er. »Ich glaube, er beginnt sich innerlich langsam von seiner Mutter zu verabschieden. Das ist gut. Er entwickelt keine Schuldgefühle …«
»Er hat ja auch keine Schuld«, sagte Tessa.
»Aber er wirkt abgestumpft, wie betäubt.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Wenn er erzählt, bekomme ich das Gefühl, dass es nur oberflächlich ist. Ich kann kein echtes Mitgefühl spüren. Kein warmes Mitempfinden.« Wieder hielt er inne. Er wirkte nachdenklich. »Verstehst du, was ich meine? Ich glaube, er baut keinen wirklichen Kontakt zu seinen Mitmenschen auf. Er mag sie nicht.«
Tessa konnte sich kaum auf das Gespräch konzentrieren. »Ich finde, er bemüht sich sehr. Er kam zu mir, um …«
»Du brauchst ihn nicht in Schutz nehmen. Er ist wütend. Das spürst du doch sicher auch, oder? Aber nicht auf seine Mutter.«
»Freu dich doch, wenn deine Patienten Zugang zu ihren verschütteten Gefühlen finden.« Tessa war genervt. Sie hatte keinen Kopf für seine Probleme mit Patienten. »Ist es nicht das, was wir uns wünschen?«
Paul schien von Tessas Widerwillen nichts zu spüren. Sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Dein Therapieansatz ist doch, ihn aus dem Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt mit der Mutter zu lösen. Das ist ein guter Weg.«
Er schüttelte unmerklich den Kopf. »Ich mache mir Sorgen, Tessa. Er ist wie eine mechanische Puppe.«
»Hilf ihm, seine Gefühle zu verstehen.« Tessa erhob sich vom Stuhl und trat vor den Schreibtisch. Eigentlich ein eindeutiges Zeichen. Aber Paul ignorierte es.
»Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber … aber ich glaube, er ist voller Sehnsucht. Hast du bemerkt, wie er dich manchmal ansieht?«
»Mich? Spinnst du?« Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Er ist ein Patient.«
Paul sah sie an. »Ja, und? Wenn er sich in dich verliebt hat, nehmen wir es nur mal für einen Moment an, dann ist er voller Sehnsucht, aber … er kann diese Sehnsucht nicht stillen. Und er muss sich vor Enttäuschung wappnen. Unbedingt. Verstehst du?«
»Paul, nein, das glaube ich nicht, das ist doch sehr weit hergeholt, er könnte …«
Er unterbrach sie. »Ich wollte eigentlich mit dir die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung diskutieren. Aber es scheint heute der falsche Zeitpunkt für dieses Gespräch zu sein.«
»Na gut, ich bin nicht ganz bei der Sache. Aber Paul, du bist Brömme gegenüber unfair. Er hat es nicht leicht, vergiss das nicht, und erwarte nicht zu viel von ihm.«
Er wirkte bedrückt und erhob sich langsam aus dem Sessel. Tessa nahm allen Mut zusammen. Jetzt oder nie.
»Ich wollte dich auch noch etwas fragen.«
Er ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen.
»Bist du eigentlich an Neumanns Studie zum Duoxepin beteiligt?«
»Genau wie du. Einige meiner Patienten bekommen das neue Medikament, andere nicht. Aber ich vermute, deine Frage zielt auf etwas anderes?«
»Ich fange an, mir Gedanken über ungewöhnliche Nebenwirkungen zu machen, und ich glaube, Neumann manipuliert die Studie. Seine Fallzahlen können nicht stimmen. Und auffällig viele Patienten stammen von dir …« Selbst in Tessas Ohren klangen diese Vorwürfe wie ein trotziges Aufbegehren. Unsachlich und unfair.
»Manipulation? Das ist nicht dein Ernst. Du beschuldigst mich?« Paul starrte sie mit offenem Mund an.
Verdammt, was tat sie nur? Sie beschuldigte ihren besten Freund, der über die Jahre fast schon zu einem Ersatzvater für sie geworden war. Kaum waren die
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