Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
beschäftigen. Das kann kein Zufall sein.«
»Warum nicht? Das ist sein Job. Er testet ein neues Medikament. Er prüft Nebenwirkungen. Was hast du eigentlich gegen deinen Oberarzt? Ist er dir im Weg? Willst du seinen Job?«
Tessa wich zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Ich kann’s nicht fassen, dass du mich das fragst.«
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich bin Kriminalbeamter und muss zuerst das Schlechte im Menschen annehmen«, sagte er leise, fast als schäme er sich dafür. Er blickte aus dem Fenster und schüttelte leicht den Kopf.
»Das geht mir anders: Ich glaube an das Gute im Menschen«, erwiderte Tessa traurig. »Ich muss zurück in die Klinik.« Sie hatte Angst, mehr zu sagen, weil ihre Stimme sie verraten könnte.
»Ich zahle.« Auch er klang resigniert.
Sie nickte und verließ das Café. Sie hatte einen neuen Koster kennengelernt. Der einfühlsame Ermittler zog sie in den Bann. Nun gab es den misstrauischen Koster. Der nervte. Aber er duzte sie, und das war schön. Auch wenn sie gestritten hatten.
Draußen blieb sie einen Moment unentschlossen auf dem Bürgersteig stehen. Es regnete in Strömen. Sie zog die Schultern hoch und rannte zur Klinik.
*
Koster blieb noch eine Weile in der Caffèteria sitzen, bestellte einen weiteren Kaffee. Sein Auto stand ein paar Querstraßen entfernt, und er hatte wenig Lust, klitschnass zu werden. Einen Schirm wollte er nicht. Er musste nachdenken, wie es weitergehen sollte. Gestern Abend noch hatte er zuversichtlich auf den heutigen Tag geblickt. Heute verletzte er für Tessa das Dienstgeheimnis, und sie machte sich strafbar. Er biss die Zähne zusammen. Sie waren kaum ein Stück weitergekommen. Sie wussten, dass der Pflegeschüler Philipp in der Nacht das Zimmer von Drost und Henke auf der Suche nach Geld durchstöbert hatte. Ganz schön abgebrüht, der Junge. Liebchen wollte heute mit ihm seinen Spind öffnen und das Tagebuch holen. Danach stünde Philipp ein sehr unangenehmes Gespräch mit der Pflegedienstleitung und dem Chefarzt bevor. Seine Ausbildung in der Klinik konnte er sich abschminken. Traurig war er nicht gewesen. Koster hatte darüber hinaus an ihm kein Fünkchen Schuldbewusstsein gegenüber der afghanischen Patientin Kiana Chavari erkennen können. Immerhin hatte er sie als falsches Alibi missbraucht.
Er trank seinen Espresso aus und sehnte sich nach einer Zigarette. Tessa wusste noch nichts von der Vernehmung des Pflegeschülers. Nein, mit ihr konnte er so nicht weitermachen. Er konnte sie nicht in seine Ermittlungstätigkeit einweihen. Wohin das führte, hatte er gerade gehört.
Vor knapp einer Woche hatte er sie kennengelernt und seitdem stellte er zunehmend infrage, woran er vorher nicht einmal leise Zweifel hatte äußern wollen. Die Patienten irritierten ihn. Seine Routinen griffen nicht mehr. Eben noch war er ärgerlich auf Tessa, dann enttäuscht, jetzt wünschte er sich nur noch, sie käme zurück und sie könnten noch einen Kaffee zusammen trinken. Er hätte sie nicht so anfahren dürfen.
Das Telefon unterbrach seine Tagträume. Die Melodie hatte er Liebchen zugeordnet. Sekunden später zogen nicht nur am Himmel immer mehr Wolken auf. Liebchen hatte keine guten Neuigkeiten: Philipps Spind war aufgebrochen und das Tagebuch erneut verschwunden. Dieses verdammte Tagebuch. Wer wusste davon? Er spürte eine undefinierbare Angst um Tessa. Er bekam eine Gänsehaut.
Da half es auch nicht viel, dass Liebchen ihm begeistert von einem Tobsuchtsanfall erzählte, den die Krankenschwester Mathilde hingelegt hatte, nachdem er sie über einige Ergebnisse von Philipps gestriger Vernehmung in Kenntnis gesetzt hatte. Liebchen meinte lachend, die Frau sei ganz nach seinem Geschmack. Na, wenigstens einer schien sich zu amüsieren.
Was sollte er mit dem Geständnis von Tessa machen? Er konnte nur versuchen, sich rückwirkend einen Durchsuchungsbeschluss zu besorgen. Sollte Tessa etwas finden, musste er sowieso an den Computer von Neumann. Er wusste, was zu tun war. Die 48 Stunden waren vorbei. Das Tagebuch blieb verschwunden. Er kam nicht voran. Er würde bei Staatsanwalt Menzel die Gentests anfordern. Er hatte Angst um Tessa. Eine ganz und gar unprofessionelle Angst. Es war persönlich geworden.
Morgen war die Beerdigung von Gabriele Henke. Wenn der Amtsrichter schnell war, konnten sie schon danach den Patienten und dem Stationspersonal die Speichelproben abnehmen. Spätestens übermorgen. Das Ergebnis würde zwar ein paar Tage auf sich
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