Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Fragebogenergebnisse. Da geht Neumann drüber weg, als gäbe es die nicht. Aber sie sind interessant.«
»Was meinst du? Hast du auf Suizidalität geachtet?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber, nein, Suizidalität ist nicht das Problem.« Er stockte. »Gib mir ein paar Tage Zeit.«
»Jetzt mach es nicht so spannend.«
»So ganz bin ich noch nicht dahintergekommen. Es hat mit Expressivität zu tun. Verstehst du?«
»Nein, kein Wort. Können wir Neumann an der Veröffentlichung hindern?«
»Er will jetzt schon loslegen?«, fragte er verblüfft. »Hhm, dann wählt Neumann also den Zeitpunkt nach den Ergebnissen aus und nicht umgekehrt.«
»Sascha! Kannst du bitte mal deutlich werden.«
»Er wartet auf einen Zeitpunkt im Verlauf der Studie, an dem die Ergebnisse gut sind. Dann geht er an die Öffentlichkeit. Vielleicht ist der Langzeitverlauf mit dem Medikament aber viel schlechter. Und die ungünstigen Befunde, die er in einem halben Jahr erhebt, kann er so prächtig in der Schublade verschwinden lassen.«
»Gibt es dafür keine Vorschriften? Für die Zeitpunkte, meine ich?«
Sascha zuckte nur mit den Schultern. »Was wirst du tun?«
»Ich habe keine Ahnung. Können wir die Manipulation beweisen?« Tessa drehte ihre Tasse in den Händen, dann blickte sie ihren Bruder an. »Andererseits kann ich nicht wegsehen. Das kann ich einfach nicht.«
»Aber du bist dir schon im Klaren, wie sehr du dir selbst damit schadest?« Er wirkte plötzlich sehr ernst. »Deine Zeit in der Uniklinik ist vorbei, wenn du damit an die Öffentlichkeit gehst. Du musst dir sicher sein, dass du es willst … und dass du es durchstehst.«
Tessa seufzte. »Ich bin sicher. Ich habe zwar Angst, aber ich habe keine Wahl. Ich könnte mir nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich muss doch mit dem leben können, was ich tue, auch wenn’s schwerfällt, oder?«
Sascha nickte. »Ich helfe dir, so gut ich kann. Aber du solltest dich jetzt schon mit beruflichen Alternativen beschäftigen.«
Tessa wollte das nicht hören. Sie fühlte sich überfordert. »Ich muss zurück in die Klinik. Koster nimmt heute Speichelproben von Patienten und Personal. Sie wollen einen DNA -Abgleich vornehmen.«
»Wer ist Koster?«
»Der ermittelnde Hauptkommissar. Danke für deine Hilfe.«
»Wie alt ist er?«
»Wie bitte?«
»Deine Stimme hat dich verraten. Wie du seinen Namen aussprichst … Ist er älter? Wie Bruno?«
Tessa konnte nicht anders, als Sascha mit offenem Mund anzustarren. Ihre Beziehung zu Bruno, in den sie sich mit siebzehn verliebt und um den sie viele Jahre gekämpft hatte, war damals Anlass zum Streit mit ihrem Bruder gewesen. Bruno war fünfzehn Jahre älter als sie. Ein erfahrener, erfolgreicher Mann, der sie vergötterte. Zum ersten Mal erfuhr sie Liebe von einem Mann. Dachte sie. Aber für ihn war die Beziehung nur ein netter Zeitvertreib, schnell war er von ihrer Jugend und ihrer Schönheit gelangweilt und beendete die Beziehung nach fünf Monaten. Für Tessa brach eine Welt zusammen, und sie setzte alles daran, ihn zurückzugewinnen. Ihrem Bruder war diese Geschichte von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Er wollte sie davon abhalten und warf ihr vor, sich an einen alten Mann zu verkaufen. Tessa ignorierte ihn. Sie wollte Bruno nur wiederhaben. Und es gelang ihr auch. Was folgte, war eine zermürbende On-off-Beziehung, in der Tessa alles tat, um Bruno zu gefallen. In dem Maße, in dem sie ihm hinterherlief, stieß er sie grob zurück. Unglücklich und verzweifelt war sie irgendwann so weit, dass sie glaubte, für niemanden liebenswert zu sein. Nach vier Jahren verließ er sie endgültig. Und sie? Sie musste schmerzhaft lernen, dass sie sich um sich selber kümmern musste und nicht nur die Erwartungen und Wünsche der anderen erfüllen durfte. Sie stand mitten im Medizinstudium und glaubte sich am Ende ihres Lebens angelangt. Niemand hatte ihr geholfen. Einen Blick nach vorn gab es nicht.
»Du hast Bruno nie gemocht.«
»Er hat dich nur benutzt, um seine eigene Orientierungslosigkeit zu überwinden. Ohne Rücksicht auf deine Gefühle.«
»Das hast du mir nie gesagt.« Tessa fühlte sich ihrem Bruder plötzlich nah. »Ich dachte immer, du interessierst dich nicht besonders für mich.«
Sascha wiegelte ab. »Was ist denn jetzt mit diesem Kommissar? Wieder einer, dem du helfen sollst, sich zurechtzufinden? Lass mich raten: Er ist verheiratet.«
Tessa wandte den Blick ab. »Ich versuche mich nicht einzumischen. Aber es ist nicht so einfach, wie
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