Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
du denkst.«
»Vielleicht nicht. Aber du brauchst jemanden, der dich wirklich liebt. Will er dich?«
Tessa zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
»Dann pass gut auf und lauf, solange du noch kannst. Wenn wir unsere Fehler ignorieren, sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen.«
»Du sprichst von dir, oder?« Tessa spürte seine Einsamkeit.
»Ich genieße die schnelle Abwechslung.« Er zeigte mit einer hilflosen Geste auf die Küchenzeile. »Wem sollte ich das zumuten?« Unter der Spüle stand eine Batterie leerer Bierflaschen.
»Sie käme wohl nicht wegen deiner verkümmerten Ordnungsliebe.«
»Jetzt kommt erst mal dein Oberarzt. Und zwar in Bedrängnis. Langsam fängt es an mir richtig Spaß zu machen, hinter seine kleinen Gaunereien zu kommen. Ich brauche noch ein paar Tage für die Recherche. Unternimm nichts, ehe wir nicht ganz sicher sind.«
Sie freute sich, dass er wir gesagt hatte. »In der Zwischenzeit sehe ich mir seinen Lebenslauf an. Seine Veröffentlichungen. Vielleicht erfahre ich etwas.« Sie zögerte kurz und suchte nach den richtigen Worten. »Ich danke dir. Vielleicht darf ich mal wieder auf einen Kaffee vorbeikommen?«
»Schau’n wir mal.«
Tessa war sich sicher, in seinen Augen ein freudiges Blitzen gesehen zu haben.
*
Auf der Station herrschte hektisches Treiben, als Tessa ankam. Über die zarte Annäherung an ihren Bruder hatte sie die Polizeiaktion fast vergessen. Sie ging sofort ins Dienstzimmer, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Dort traf sie als Erstes ein ärgerlicher Blick von Torben.
»Wir sind gerade fertig. Wenn die Frau Doktor auch so freundlich wäre, ihre Speichelprobe abzugeben? Im Behandlungsraum warten die Kollegen.«
Tessa drehte sich wortlos um und verließ das Dienstzimmer. Gut, er war sauer auf sie, sein Gesicht sah blass und enttäuscht aus. Aber dieser Sarkasmus vor ihren Kollegen war unnötig – und noch dazu unverschämt. Sie klopfte an die Tür des Behandlungszimmers und brachte die Prozedur in kürzester Zeit hinter sich. Sie leistete alle Unterschriften vorbehaltlos. Doch ins Dienstzimmer wollte sie nicht zurückgehen. Sollte er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Gleichzeitig schmerzte sie die Sehnsucht nach seiner Nähe, nach seinem Duft. Besser nicht daran denken. Sie musste sich zusammenreißen.
Auf dem Flur traf sie auf den Patienten Bollmus, der mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf im Kreis herumlief. Als sie näher kam, hörte sie ihn leise beten: »O Herr, hilf, er war da. Er wird kommen und mich holen.« Dazu wedelte er mit der rechten Hand, als ob er imaginäre Passanten aufforderte, weiterzugehen. Sie blieb stehen und sprach ihn an. Er fuhr erschrocken zusammen und entschuldigte sich.
»Ich wollte fragen, ob alles in Ordnung ist?«, sagte Tessa.
»Die haben unsere Spucke mitgenommen.« Er rieb sich angewidert über den Mund.
Tessa lachte. »Das stimmt!«
»Ganz dicht stand er bei mir. Warum müssen alle spucken?«
»Ich verstehe nicht? Wer stand bei ihnen?«, fragte Tessa skeptisch.
»Es war real. Liebe Jungfrau Maria. Ich kann das beurteilen! Sie war schon tot.« Er zitterte vor Aufregung.
»Warten Sie, reden Sie von Frau Henke?« Tessa war alarmiert. »Sie sind an dem Mittag hier auf Station gekommen, stimmt’s? Haben Sie etwas gesehen?«
»Oh, oh, oh, gesehen. Heilige Mutter Gottes. Oje, jetzt müssen wir aber beten. Beten. Sonst kommt er zurück!«
Tessa war eine Idiotin, ihn so mit Fragen zu bombardieren. Was, wenn er wirklich etwas wusste? Sie durfte ihn nicht so unter Druck setzen. Herrje, hatte sie denn alles vergessen, was sie jemals gelernt hatte? »Warten Sie, wir reden ein wenig in Ruhe, ja, bei mir im …«
Patrick Bollmus ging bereits den Flur hinunter und war in Selbstgesprächen versunken.
»Mist.« Sie musste es später noch einmal versuchen.
In ihrem Büro fuhr sie den Laptop hoch. Was war nur in den letzten Tagen los mir ihr? Erst Bollmus und jetzt setzte sie an, ihrem eigenen Oberarzt hinterherzuspionieren. Trotzdem gab sie seinen Namen bei Google ein.
Die Tür sprang auf und Torben trat ungefragt ein. Betont langsam schloss er die Tür wieder, blieb davor stehen und sah sie mit glänzenden Augen stumm an.
»Mach mir bloß keine Vorwürfe«, fauchte Tessa. Ihre Stimme brach. Sie hasste sich dafür. Sie wollte souverän bleiben, sich nicht angreifbar machen. Sie räusperte sich.
»Du hättest mir sagen können, dass du nicht da bist. Ich hätte es als Verweigerung auslegen
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