Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
nicht, woran man war. Denn das Viertel war heruntergekommen und tiefgründig. Schöne Bausubstanz wirkte vernachlässigt, Abrisshäuser liebevoll bewohnt. Widersprüche harmonisch vereint. Sascha wohnte in einem Eckhaus einer ruhigen Nebenstraße.
Er stand in der Tür, als sie die alte Treppe hochkam, und umarmte sie zur Begrüßung. Der helle, große Raum beeindruckte sie jedes Mal. Er hatte die meisten Wände entfernt und so aus zwei Zimmern und der Küche einen einzigen großen Raum geschaffen. Jeder Maler hätte seine Freude daran gehabt. Das Tageslicht fiel durch die großen Fenster und warf Lichteffekte an die rau verputzten Wände. Die Fußbodendielen hatte Sascha weiß gestrichen. Die Farbe blätterte bereits ab. Sein Bett stand an einem Ende des Raumes. Zerwühlt. Daneben eine Kleiderstange auf Rollen. Auf dem Boden mehrere marokkanische Sitzkissen und diverse Stapel Bücher. Aus den meisten ragten Zettel heraus. Er schien sie alle gleichzeitig zu lesen. Mit seiner kleinen Handschrift dicht beschriebene Blätter lagen verstreut um die Buchstapel. Offenbar machte er sich Notizen zu den Texten, die er abends im Bett las. Tessa schaute sich die Titel genauer an und war nicht erstaunt, neben wissenschaftlichen Fachbüchern zwei Gedichtbände und einen Roman zu finden. Bertolt Brecht, Erich Fried. Sie hatte ihn nicht für so romantisch gehalten. Dann entdeckte sie das Buch von David Foster Wallace.
»Hast du Infinite Jest gelesen?«
»Das liest man nicht nur, damit lebt man. Milchkaffee?«
Tessa lachte. »Es macht süchtig. Ist Wallace nicht großartig?«
Sascha hantierte in einer kleinen Küchenzeile an der gegenüberliegenden Wand. Töpfe, Geschirr, Gläser und Lebensmittel stapelten sich in einem wilden Durcheinander. Ein vertrocknetes Töpfchen mit Basilikum stand stellvertretend für das vernachlässigte Ambiente. Davor lenkte ein langer dunkler Holztisch alle Aufmerksamkeit auf sich. Er zentrierte die Energie. Auf ihm herrschte eine Art Ordnung. Ein Laptop schnurrte leise vor sich hin. Ein paar Briefe lagen ordentlich gestapelt an einem Ende. Zwei Milchkaffeeschalen und eine silberne Zuckerdose luden ein, sich auf die beiden einzigen Stühle an einen Tisch für über zehn Personen zu setzen.
»Ich hatte vergessen, wie schön das Licht ist«, sagte sie und meinte es auch so. Trotz der Anzeichen von Verwahrlosung.
Sascha setzte sich auf einen der beiden Stühle. »Schwesterchen, dein lieber Oberarzt manipuliert. Es hat mir richtig Spaß gemacht, seine kleinen Schweinereien zu entdecken.«
Tessa seufzte. Sie war nicht überrascht. Eher entsetzt und dabei doch voller Genugtuung. Nun wurde zur Gewissheit, was sie befürchtet hatte. Bislang hatte sie geglaubt, sie stecke in Schwierigkeiten. Dabei ging es erst richtig los. Wie sollte sie mit der Datenfälschung umgehen? Sie setzte sich an den Tisch und wartete auf Saschas Erklärung.
»Wie du vermutet hast, hat er die Fallzahlen der Studie gefälscht. Es sind viel mehr Patienten in seiner Rohdatenmatrix, als an der Studie tatsächlich teilgenommen haben. Die eingegebenen Daten sind Kombinationen aus den echten Patientendaten. Das lässt sich anhand der Bluttests schön zurückverfolgen. Hässlich.«
»Gibt es keine andere Erklärung dafür?« Tessa rührte resigniert in dem Milchkaffee, den Sascha ihr hingeschoben hatte.
»Die Phantasiepatienten sind Nika zugeordnet. Sprich mit Paul. Ihr kennt euch so gut, er wird dir antworten.«
»Ich habe ihn mit meinem Verdacht gekränkt.« Sie hielt inne. »Entweder bin ich total naiv oder ich habe einen großen Fehler gemacht und einen echten Freund unnötig verletzt.«
Saschas Blick war verständnisvoll. »Darüber hinaus rechnet Neumann munter mit den Daten der Patienten weiter, die aus der Studie bereits ausgestiegen sind«, erklärte er. »Das nennt man Last-observation-carried-foreward-Methode. Aber die sollte in einer Studie der Phase 3 nicht angewandt werden. Er tut so, als ob die Patienten noch dabei wären. Weißt du, warum so viele aus der Studie aussteigen?«
Tessa schüttelte den Kopf.
»Lange beschäftigt hat mich deine Frage nach den Nebenwirkungen des Präparats. Damit bin ich noch nicht fertig. Ich habe Kontakt zu einem befreundeten Pharmakologen aufgenommen. Im provisorischen Beipackzettel stehen nur die üblichen Verdächtigen. Allen voran Magen-Darm-Probleme. Das ist bei Serotonin nicht anders zu erwarten. Die Blut-Parameter sehen gut aus. Was mich verwirrt hat, sind die
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