Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Gabriele Henke kannte. Nein, irgendwas war faul. Sie nahm ein letztes bisschen Trotz zusammen.
»Ich habe Unterlagen gefunden, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Sie die Studiendaten manipuliert haben.«
Neumann versuchte offensichtlich nicht mehr länger, ruhig zu bleiben. Er ließ die Wut in seiner Stimme zu und giftete Tessa an. »Glauben Sie wirklich, ich hätte nicht bemerkt, dass Sie in mein Büro eingebrochen sind?«
Er beugte sich zu ihr über den Schreibtisch, dass Tessa unwillkürlich bis ans Fensterbrett zurückwich. Woher wusste er das?
»Sie sind eine Verbrecherin, eine Denunziantin und ein hinterlistiges Biest. Ich sorge dafür, dass Sie keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Woher wissen Sie, dass ich …«
»Sie sind so naiv! Glauben Sie wirklich, mein Mitarbeiter hätte mir nicht brühwarm erzählt, dass Sie sich unbefugt im Labortrakt aufgehalten haben? Aufgeregt und schwitzend wie das leibhaftige schlechte Gewissen? Glauben Sie wirklich, ich kann auf dem Computer nicht erkennen, welche Dateien Sie aufgerufen haben?« Neumanns Stimme klang heiser. »Glauben Sie wirklich, ich bin so blöd wie Sie und kann nicht eins und eins zusammenzählen?« Er hob drohend die Hand. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelungen ist, an mein Passwort zu kommen, aber ich schwöre Ihnen, ich mach Sie fertig, wenn Sie nur eine einzige Beschuldigung gegen mich erheben! Fix und fertig!«
»Aber Sie haben die Daten manipuliert«, wisperte sie.
»Sie können mir gar nichts beweisen. Es ist nichts gefälscht. Gar nichts! Stecken Sie Ihre Nase in Ihre eigenen Angelegenheiten, oder Sie lernen mich kennen.« Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung fegte er einen Aktenstapel von ihrem Schreibtisch. Er hob die Faust, als ob er sie schlagen wollte. Doch dann wischte er brutal ihren Kaffeebecher, die Schreibtischlampe und die restlichen Papiere vom Tisch. Er drehte sich um, stürmte raus und schlug die Tür hinter sich zu, dass es krachte.
Zitternd blieb Tessa sitzen. Ihre Beine hätten sie nicht getragen. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund und Mühe, zu atmen. Panik stieg in ihr auf. Ihr Sichtfeld verdunkelte sich an den Rändern. Das unerträgliche Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, zu ersticken, nahm zu. Tessa riss das Fenster auf und schnappte hektisch nach Luft. Sie hatte eine Panikattacke – oder war zumindest auf dem besten Weg dorthin. Sie stützte sich mit beiden Armen auf dem Fenstersims ab. Versuchte nicht zu hecheln, sondern einen Atemzug auszusetzen, dann tief Luft zu holen. Aussetzen – atmen. Hätte er sie geschlagen? Ja, sie war fest davon überzeugt. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzogen gewesen. Er hatte die Kontrolle verloren. Tessa wollte nicht mehr weiterdenken. Sie konnte ihren Oberarzt nicht zum Mörder stilisieren. Das war aberwitzig – und ergab überhaupt keinen Sinn. Er tötete doch nicht die Mutter seines Kindes. Für Geld. Nach all den Jahren. Aber Gabriele Henke war tot. Und Neumann wusste jetzt, dass Tessa von der Studienmanipulation wusste. Allerdings nicht, dass sie die Verbindung zu Gabriele Henke kannte.
Sie wollte nur nach Hause – in Sicherheit.
*
Koster war auf dem Weg in die Bar du Nord . Die kleine Bar in der Dorotheenstraße lag um die Ecke von Alexanders Wohnung. War es Zufall, dass sein bester Freund und Tessa im gleichen Stadtteil wohnten? Winterhude war eine gute Wohngegend. Die Alster auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Mühlenkamp mit allen Geschäften, die man sich nur wünschen konnte. Kleine Läden, keine großen Ketten. Wenn man von den Bäckereien einmal absah. Alexander hatte die Bar du Nord vorgeschlagen. Koster war noch nie da gewesen. Nicht seine Kragenweite. Aber er wollte sich inspirieren lassen.
Er hatte alle Speichelproben bekommen – außer der von Oberarzt Neumann. Das wurmte ihn. Und Neumann machte es verdächtig. Er war gespannt auf Liebchens Recherche-Ergebnisse. Der Streit mit Tessa steckte ihm in den Knochen. Der einzige Lichtblick des Tages waren die Telefonate mit einem Kumpel von der Ausländerbehörde gewesen. Noch immer spürte er die Erleichterung und die Dankbarkeit, die das junge afghanische Mädchen verströmt hatte, als er ihr von seinen Ergebnissen berichtete.
Als er die wenigen Stufen ins Souterrain der Bar hinunterging, empfing ihn gedämpfte Musik, heiseres Lachen und Frauenparfüm. Er hätte es sich denken können: Alexanders
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