Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
sie das Richtige tat. Auch wenn sie alles falsch machte. Aber diesen Menschen gab es nicht.
Was hatte Brömme gestern Nacht von ihr gewollt? Er hatte versprochen, nie wieder zu ihrer Wohnung zu kommen. Sie rief im Dienstzimmer an und bat eine Krankenschwester, Brömme zu suchen. Sie musste wieder handlungsfähig werden, und mit Brömme würde sie anfangen. Sie konnte es gerade noch schaffen, ihm ins Gewissen zu reden, bevor es Zeit für die Therapiestunde mit Kiana Chavari war.
Dann wanderten ihre Gedanken weiter zur Studie. Das neue Präparat wirkte. Nur wie? Die Patienten bemerkten bereits nach wenigen Tagen eine deutliche Entspannung. Sie waren gelassener und nicht mehr so dünnhäutig. Die Stimmungskurve stieg langsam, aber stetig nach oben. Nicht bei allen. Isabell Drost hatte an der Studie teilgenommen. Und sich das Leben genommen. Keine Erfolgsgeschichte. Trotz des Duoxepins. Sascha hatte Suizidalität als Nebenwirkung nicht weiter in Erwägung gezogen. Er sprach von Expressivität. Tessa verstand es einfach nicht. Gabriele Henke war ebenfalls in der Studie gewesen. Auch ihr ging es besser. Dann schien sie jemanden zu erpressen. Na ja, das musste ja keinen Zusammenhang haben. Kurt Mager? Er war ein glänzender Beobachter. Vielleicht wusste er mehr? Warum hatte sie nicht gleich an ihn gedacht? Tessa machte sich Notizen.
Gabriele Henke hatte ihren Ex erpresst. Vielleicht. Und dieser Ex war ihr Oberarzt Magnus Neumann. Der hatte kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Jemand tötete Henke. Neumann? Nein, das konnte nicht sein. Weil es nicht sein durfte. Eine lächerliche Idee. Sollte sie Neumann danach fragen? Sie hatte ihn sich ohnehin schon zum Feind gemacht. Dann kam es darauf auch nicht mehr an. Aber sie konnte doch nicht mit einem Mörder verhandeln. Sie musste dringend Torben einweihen. Zu blöd, dass Brömme sie gestern Nacht gestört hatte. Wo blieb er eigentlich? Und wie kam er wohl mit dem Medikament zurecht?
Die Fallzahlen der Studie waren manipuliert. Dank ihres Einbruchs und Saschas Hilfe war das zur Gewissheit geworden. Alle falschen Patienten waren Paul zugeordnet. Was hatte er damit zu tun? Wusste er von nichts, oder machte er mit Neumann gemeinsame Sache? Tessa merkte, wie sie immer ärgerlicher wurde. Auf Neumann, auf sich selbst. Sie verdächtigte ihren liebsten Kollegen, Mentor, Freund und Ersatzvater. Gut, dann wollte sie die Energie des Ärgers wenigstens nutzen, um herausfinden, was verdammt noch mal hier vor sich ging. Sie griff zum Telefon.
Nach dem dritten Läuten nahm ihr Bruder das Telefon ab.
»Na, hast du deine Speichelprobe abgegeben?«, neckte er sie.
»Klar. Hör zu: Neumann kannte die Henke. Er ist der Vater ihres Kindes! Was sagst du dazu?«, fragte Tessa.
»Wow.«
»Das finde ich auch. Und er hat kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Zu keinem Zeitpunkt. Was geht hier vor?«
»Tessa, ich sag’s dir nicht gerne, aber das bedeutet nichts Gutes! Halt dich bloß fern von ihm.«
Sie schwieg betreten.
»Tessa?«
»Ich habe ihm gesagt, was ich weiß.«
Am andern Ende der Leitung stöhnte Sascha auf.
»Er wusste sowieso, dass ich die Daten geklaut habe.« Tessa bekam erst durch Saschas Schweigen eine Ahnung von der Tragweite ihrer blinden Aktion. »Ich stecke in der Klemme, oder?«
»Ich finde, du solltest ganz schnell mit deinem Kommissar sprechen. Sofort. Das ist nicht lustig, Tessa. Wenn … und ich sage wenn … dein Oberarzt etwas mit dem Mord an der Henke zu tun hat, dann bist du in Gefahr. Sorgen hatte ich schon gestern, jetzt habe ich Angst um dich.«
Es tat gut zu hören, dass Sascha sich um sie sorgte, dass sie ihm nicht gleichgültig war. »Ich mache alles falsch, oder?«
»Du machst es eben so, wie du bist. Undiplomatisch. Immer geradeheraus. Dann weiß dein Gegenüber zwar, woran er ist, aber du machst dich zur Zielscheibe.«
»Ich will es wissen. Ich muss es wissen, Sascha. Ich wollte dich fragen, ob du herausgefunden hast, warum die falschen Studienpatienten bei Paul waren? Hat er etwas damit zu tun?«
»Keine Ahnung. Ich habe mir die Fragebögen vorgenommen. Du solltest jetzt nicht mehr auf der Station herumfragen. Bring dich aus der Schusslinie, klar?«
»Was ist mit den Fragebögen?«
»Was weißt du über Expressivität?«
»Wenn du mich so fragst: Vermutlich zu wenig.«
»Hast du je bemerkt, dass die Patienten sich unter dem Duoxepin verändert haben? Zum Beispiel in ihrem Aussehen? Oder in ihrer Konzentrationsfähigkeit? Ihrem
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