Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
diesen seltsamen Kosenamen gebrütet. Alba. Albertus Magnus. Der große Gelehrte. Magnus. Magnus Neumann. Ihr Oberarzt und die Henke. Die ermordete Henke. War Neumann der Vater von Maria Rosenstein? Und er hatte nichts gesagt. In all der Zeit nicht. Nicht nach dem Mord. Nicht, als er wusste, dass die Tochter nach Hamburg kommen würde. Hatte er Gabriele Henke umgebracht? Tessa begann zu zittern. Ein nächster Gedanke stürmte auf sie ein. Sie kramte aus ihrer Handtasche den Zettel mit den Codes hervor. Den Zettel, der es ihr erst ermöglicht hatte, in Neumanns Laptop einzubrechen. Er war klein gefaltet. Sie zerriss ihn fast mit ihren zitternden Fingern.
ABLA: ICD = 934? / DSM = 41913?
Das erste Wort: ABLA . Ein Anagramm. ALBA . Verdammt!
*
Ihr Oberarzt und Kollege! Was, wenn Neumann der mysteriöse Fremde war, mit dem sich Gabriele Henke verabredet hatte? Was wusste sie denn schon über ihn?
Das Klopfen an der Tür unterbrach ihre düsteren Grübeleien. Bevor Tessa antworten konnte, wehte der Hauptdarsteller ihrer Katastrophenszenarien herein. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte er ihre Gedanken gehört?
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Neumann. »Sie sehen aus, als wären Sie einem Geist begegnet.«
Tessa starrte ihn noch einen Moment länger an, ehe sie sich gefangen hatte. »Ja, äh, nein … nichts von Bedeutung.« Ihre Hände waren plötzlich schweißnass.
»Na dann. Ich komme ein letztes Mal wegen Kiana Chavari. Ich habe Ihnen schon vor ein paar Tagen gesagt, dass Sie einen anderen Behandlungsplatz finden sollen. Stattdessen belegt die Patientin immer noch ein Bett. Muss ich Ihnen erst eine Dienstanweisung geben?«
Tessa glaubte, Zorn in Neumanns Gesicht zu entdecken, während er sie eingehend musterte. Er war wütend auf sie? Weil sie sich für ihre Patienten einsetzte, während er die Patienten benutzte, um seine eigene Karriere voranzutreiben? Was glaubte er eigentlich, wie er mit ihr umgehen konnte? So wie er mit Gabriele Henke umgegangen war? Sie spürte die Hitze der Angst in sich hochkriechen. Sie ballte die Fäuste. Trotzdem … »Es geht Ihnen nur um die Studie, nicht wahr? Schicksale wie Kianas sind Ihnen doch völlig gleichgültig. Ihnen geht es nur um Ihre Karriere!«
Neumann sah sie überrascht an. »Doktor Ravens, könnten Sie mir freundlicherweise mal erklären, was Sie von mir wollen? Noch dazu in diesem Ton!«
»Sind die Studienergebnisse gefälscht?« Jetzt war es heraus. Tessa hatte alles auf eine Karte gesetzt. Nicht besonders geschickt formuliert, aber es tat gut, es endlich auszusprechen.
»Nein.« Die Antwort kam prompt. Der Tonfall war eisig.
»Kann ich die Daten einsehen?«, krächzte sie. Der Mut war verflogen, nur der Trotz trieb sie voran.
»Nein! Es reicht! Wissen Sie, ich hatte mir vorgenommen, Geduld mit Ihnen zu haben, da Sie offensichtlich seit dem Suizid Ihrer Patientin mit der ganzen Situation überfordert sind. Aber das geht wirklich zu weit.« Seine Stimme klang gefährlich leise, und er baute sich drohend vor ihrem Schreibtisch auf. Tessa schrumpfte in ihrem Stuhl.
»Irgendetwas stimmt aber mit der Studie nicht«, murmelte Tessa. Selbst in ihren eigenen Ohren klang dieser Satz jämmerlich.
»Sie beschuldigen mich, Ihren Oberarzt, der Urkundenfälschung? Mir reicht’s. Das hat Konsequenzen, das verspreche ich Ihnen!«
Auch wenn seine Stimme ruhig blieb, so spürte Tessa den Zorn unter der Oberfläche brodeln. Sie konnte den Blick nicht von seinem zuckenden Augenlid abwenden.
»Wissen Sie, wie viele Menschen dieses neue Präparat von ihren Depressionen befreien könnte? Es ist das Medikament der Zukunft. Wir haben zusammen mit der medi-pharma AG millionenschwere Forschungsprogramme laufen lassen!« Seine Stimme klang schneidend. »Wir haben alle gravierenden Nebenwirkungen ausgeschlossen. medi-pharma könnte sich keinen ähnlichen Skandal wie damals die Contergan-Affäre leisten.« Neumann blickte starr geradeaus. »Wir haben Jahre investiert. Viele Jahre. Mühe von vielen engagierten Forschern. Vergessen Sie das nicht. Sie haben ja keine Ahnung.«
Sollte er doch unschuldig sein? Tessa schwankte. Sie hatte aufmerksam seine Körpersprache beobachtet, seinem Tonfall während des Monologs gelauscht. Die Art und Weise, wie er sie belehrte, ließ bei ihr ein Warnlicht aufleuchten. Und die Daten. Sie waren manipuliert. Warum sollte er das tun, wenn er keinen Dreck am Stecken hatte? Und zu allem Überfluss hatte er verschwiegen, dass er
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