Nacht ohne Ende
die energisch zu wissen verlangt hatte, was dort los war. Jetzt war sie verstummt.
»Sie sind doch so groß im Sprücheklopfen«, sagte er zu Tiel. »Übernehmen Sie das Reden.«
Sie erhob sich vom Fußboden, ging an Sabra und Doc und dem Frito-Lay-Aufsteller vorbei und quer über die freie Fläche zum Tresen. Sie verschwendete keine Zeit und wählte den Notruf. Sobald sich die Vermittlung meldete, sagte sie: »Sagen Sie dem Sheriff, er soll mich sofort zurückrufen. Stellen Sie keine Fragen. Dies ist eine Notsituation, und er weiß Bescheid. Sagen Sie ihm, er soll im Gemischtwarenladen anrufen.« Sie legte schnell auf, bevor die Vermittlung mit dem Routinedrill fortfahren konnte, was nur Verschwendung kostbarer Zeit gewesen wäre.
Sie warteten in angespanntem Schweigen. Keiner sagte ein Wort. Vern und Gladys saßen eng aneinander geschmiegt auf dem Boden. Als Tiel in ihre Richtung blickte, machte Vern sie verstohlen auf die Nylontasche in seinem Schoß aufmerksam. Irgendwie hatte er es geschafft, sie von dem Regal herunterzuholen, ohne dass Ronnie etwas davon mitbekommen hatte. Ein gerissener Casanova. Das an sich würde schon eine gute Story ergeben, dachte Tiel. Außer dass sie noch eine sehr viel bessere hatte, eine, bei der sie nicht nur eine Reporterin war, sondern eine unmittelbar Betroffene. Gully würde entzückt sein. Wenn ihr diese Story nicht den begehrten Auftritt in Nine Live einbrachte...
Obwohl sie damit gerechnet hatte, dass das Telefon klingeln würde, zuckte sie erschrocken zusammen, als es losschrillte. Sie meldete sich sofort.
»Wer spricht da?«, fragte eine Männerstimme.
Sie umging eine direkte Antwort, indem sie sagte: »Sheriff?«
»Marty Montez.«
»Sheriff Montez, ich bin zur Sprecherin bestimmt worden. Ich bin eine der Geiseln.«
»Sind Sie in unmittelbarer Gefahr?«
»Nein«, erwiderte sie, überzeugt, dass im Moment keine Gefahr drohte.
»Hat Ihnen der Geiselnehmer körperliche Gewalt angetan?«
»Nein.«
»Berichten Sie mir, was bisher passiert ist.«
Sie begann mit einer kurzen und exakten Schilderung des Überfalls, angefangen mit Ronnies Schuss auf die Videoüberwachungskamera. »Die Sache wurde unterbrochen, als bei seiner Komplizin die Wehen einsetzten.«
»Wehen? Sie meinen, sie bekommt ein Baby?«
»Genau das, ja.«
Nach einer längeren Pause, während der sie den schweren Atem eines übergewichtigen Mannes am anderen Ende der Leitung hören konnte, sagte er: »Antworten Sie mir, wenn Sie es gefahrlos tun können, Miss. Handelt es sich bei diesen Räubern zufällig um zwei High-School-Kids?«
»Ja.«
»Was fragt er?«, verlangte Ronnie zu wissen.
Tiel bedeckte die Sprechmuscheln mit der Hand. »Er hat gefragt, ob Sabra starke Schmerzen hätte, und ich habe ihm geantwortet.«
»Jesus, Maria und Josef!«, rief der Sheriff und pfiff durch die Zähne. Mit gedämpfter Stimme berichtete er seinen Deputys - oder zumindest nahm Tiel an, dass er mit seinen Stellvertretern sprach -, dass die Geiselnehmer die beiden Kids aus Fort Worth waren. Dann fragte er Tiel: »Ist jemand verletzt?«
»Nein. Wir sind alle unversehrt.«
»Wer ist dort alles bei Ihnen? Wie viele Geiseln?«
»Vier Männer und zwei Frauen, mich nicht mit eingerechnet.«
»Sie sind sehr redegewandt. Sie sind nicht zufällig eine gewisse Miss McCoy?«
Sie versuchte, ihre Überraschung vor Ronnie zu verbergen, der ihr aufmerksam zuhörte und misstrauisch ihr Mienenspiel beobachtete. »Das ist richtig. Es ist niemand verletzt worden.«
»Sie sind also tatsächlich Miss McCoy, aber Sie wollen nicht, dass die Geiselnehmer erfahren, dass Sie Fernsehreporterin sind? Ich verstehe. Ihr Chef, ein Typ namens Gully, hat Sie als vermisst gemeldet. Hat schon zweimal in meinem Büro angerufen und gefordert, dass wir eine Fahndung nach Ihnen einleiten. Sagte, Sie wären von Rojo Fiats aus losgefahren und hätten sich nicht bei ihm gemeldet -«
»Was sagt er?«, fragte Ronnie.
Sie unterbrach den Sheriff. »Sheriff Montez, es wäre im besten Interesse aller Beteiligten, wenn Sie uns einen Arzt herschicken könnten. Einen Gynäkologen, wenn möglich.«
»Sagen Sie ihm, er soll alles mitbringen, was er für eine schwierige Entbindung benötigt«, warf Doc ein.
Tiel gab Docs Nachricht weiter.
»Sorgen Sie auch dafür, dass er weiß, dass das Baby in Steißlage ist«, fügte Doc hinzu.
Nachdem Tiel auch das übermittelt hatte, fragte Montez, von wem sie ihre Informationen bekäme. »Er nennt sich Doc«, erklärte
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