Nacht ohne Ende
gerade damit beschäftigt, durch Gleitsichtbrillengläser die Inhaltsstoffe auf einem Glas auf dem Regal zu entziffern. »Jalapeno-Pfeffer— Marmelade ? Du lieber Himmel!«
Dann kamen die beiden zu Tiel in den Korridor und bewegten sich auf die jeweiligen Toilettentüren zu. »Trödel nicht wieder so lange herum, Gladys«, sagte der Mann. Seine weißen Beine waren praktisch haarlos und sahen lächerlich dünn in seinen ausgebeulten Khakishorts und den dick besohlten Turnschuhen aus.
»Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, und ich werde mich um meine kümmern«, gab seine Ehefrau smart zurück. Als sie an Tiel vorbeiging, zwinkerte sie ihr zu, als wollte sie sagen: »Männer! Sie halten sich immer für Gott weiß wie überlegen, aber wir wissen es besser.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Tiel das alte Ehepaar drollig und liebenswert gefunden, aber sie las gerade nachdenklich die Notizen durch, die sie fast wortwörtlich von Gully übernommen hatte.
»Du hast gesagt, der Junge wäre davongebraust, als ob ihn jemand mit vorgehaltener Schrotflinte zum Heiraten hätte zwingen wollen. Eine merkwürdige Wortwahl, Gully.«
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Er senkte viel sagend die Stimme. »Weil sie mich auf der Stelle in Rente schicken werden, wenn das hier vor unserer nächsten Nachrichtensendung bekannt wird. Wir sind nämlich sämtlichen Konkurrenzsendern und Zeitungen im Staat zuvorgekommen.«
Tiels Kopfhaut begann zu prickeln, wie jedes Mal, wenn sie wusste, dass sie im Begriff war, etwas zu erfahren, was noch kein anderer Reporter erfahren hatte; wenn sie den wesentlichen Faktor enthüllt hatte, der ihre Story von allen anderen abheben würde; wenn ihr Exklusivbericht das Potential hatte, ihr einen Journalismuspreis einzubringen oder Lob von ihren Kollegen. Oder ihr die heiß begehrte Sendezeit in Nine Live zu garantieren.
»Wem sollte ich hier denn schon davon erzählen, Gully?
Außer mir sind in diesem Laden nur noch ein frisch von der Weide gekommener Cowboy, der gerade ein Sixpack Bud-weiser kauft, eine forsche Oma und ihr Ehemann von außerhalb - das erkenne ich an ihrem Akzent. Und zwei nicht Englisch sprechende Mexikaner.« Die Männer waren vor kurzem in den Laden gekommen. Tiel hatte zufällig gehört, wie die beiden Spanisch sprachen, während sie abgepackte Burritos in einer Mikrowelle erhitzten.
Gully sagte: »Linda -«
»Linda? Sie hat die Story bekommen?«
»Du bist im Urlaub, erinnerst du dich?«
»Ein Urlaub, den zu nehmen du mich förmlich gezwungen hast!«, rief Tiel empört.
Linda Harper war ebenfalls Reporterin, eine verdammt gute Reporterin, und Tiels heimliche Rivalin. Es wurmte Tiel ganz gewaltig, dass Gully Linda damit beauftragt hatte, über eine solche Bombenstory zu berichten, die von Rechts wegen eigentlich ihr gehört haben sollte. So sah sie die Sache zumindest.
»Was ist nun, willst du das hier hören oder nicht?«, fragte er mürrisch.
»Schieß los.«
In dem Moment kam der ältere Mann wieder aus der Herrentoilette heraus. Er ging zum Ende des Korridors, wo er stehen blieb, um auf seine Frau zu warten. Wohl aus Langeweile nahm er einen Camcorder aus einer Nylontasche und begann damit herumzuhantieren.
Gully sagte: »Linda hat heute Nachmittag Sabra Dendys beste Freundin interviewt. Und jetzt halt dich fest! Die Dendy ist schwanger mit Ronnie Davisons Kind. Im achten Monat. Die beiden hatten die Sache bisher vertuscht.«
»Das ist ja stark! Und die Dendys wussten nichts davon?« »Laut Aussage der Freundin wusste niemand etwas davon. Das heißt, bis gestern Abend. Da haben die Kids ihren Eltern die Neuigkeit beigebracht, und Russ Dendy ist die Wände hochgegangen.«
Tiels Gedanken rasten bereits voraus und füllten die Lücken aus. »Dann ist es also gar keine Entführung. Sondern eine zeitgenössische Version von Romeo und Julia.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber...«
»Aber das würde ich zunächst einmal vermuten«, erwiderte Gully. »Eine Ansicht, die auch Sabra Dendys beste Freundin und Vertraute tei lt. Sie behauptet, Ronnie Davi son wäre verrückt nach Sabra und würde ihr kein Härchen krümmen. Hat erzählt, Russell Dendy hätte schon über ein Jahr lang gegen diese Romanze angekämpft. Niemand ist gut genug für seine Tochter; sie sind noch viel zu jung, um zu wissen, was sie wollen; das College ist ein Muss, und so weiter. Du verstehst.«
»Ja.«
Aber was ihr nicht in den Kopf wollte, war, dass Linda Harper bei dieser
Weitere Kostenlose Bücher