Nacht ohne Ende
Augenwinkeln sah Tiel, wie die Beamten des Sondereinsatzkommandos Nummer Zwei unter strenger Bewachung in einen Transporter verfrachteten. Die Tür wurde zugeknallt, und der Transporter brauste mit jaulenden Reifen vom Parkplatz, J uan war mit Handschellen gefesselt auf eine Tragbahre gelegt worden, wo sich Sanitäter um seine Schussverletzung kümmerten.
Tiels Blick war gerade an ihm vorbeigeglitten, als er jäh zurückzuckte. Juan hatte plötzlich begonnen, sich vehement gegen den Sanitäter zu wehren, der gerade eine Infusionsnadel in seinen Handrücken einzuführen versuchte. Wie ein Irrer in einer Zwangsjacke wand er sich heftig hin und her, schlug wild mit seinen gefesselten Armen um sich. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte, und Tiel fragte sich, warum sie das eigentlich so verwirrend fand.
Dann erkannte sie, dass die Worte, die er schrie, auf Englisch waren.
Aber wieso, er spricht doch gar nicht Englisch, dachte sie dümmlich. Nur Spanisch.
Außerdem ergaben seine Worte überhaupt keinen Sinn, denn er brüllte aus voller Kehle: »Er hat ein Gewehr! Da! Schnell! Warum tut denn keiner was? O, Gott, nein!«
Tiel registrierte die Worte den Bruchteil einer Sekunde bevor J uan blitzschnell von der Tragbahre sprang, quer über den Asphalt hechtete und sich dann mit einem gewaltigen Satz auf den bewaffneten Mann stürzte, wobei er dem anderen hart seine Schulter in den Unterkörper rammte und mit ihm zu Boden ging.
Aber nicht, bevor Russell Dendy einen sauberen Schuss aus einem Jagdgewehr abfeuern konnte.
Tiel hörte den ohrenbetäubenden Knall und wirbelte herum, um zu sehen, wie die Tür des Gemischtwarenladens zu Bruch ging und sich ein Hagel von Glassplittern auf Ronnies auf dem Bauch liegende Gestalt ergoss. Sie erinnerte sich später nicht mehr, ob sie geschrien hatte oder nicht. Sie erinnerte sich später auch nicht mehr daran, wie sie wie von allen Höllenhunden gehetzt zum Ladeneingang zurückgerannt war oder wie sie sich trotz der Glasscherben neben Ronnie auf Hände und Knie hatte fallen lassen.
Sie erinnerte sich jedoch noch deutlich, wie sie Juan rufen hörte - um sein Leben zu retten: »Martinez, Kriminalbeamter im Untergrund! Martinez, ich arbeite als verdeckter Ermittler der Finanzbehörden!«
15
Das Desinfektionsmittel, das der Sanitäter auf Tiels Hände und Knie tupfte, brannte höllisch. Die scharfkantigen Glasscherben hatten sich durch den Stoff ihrer Hose gebohrt, die man ihr oberhalb der Knie abgeschnitten hatte.
Tiel hatte die Schnittwunden überhaupt nicht wahrgenommen, bis der Sanitäter mit einer winzigen Pinzette Glassplitter daraus zu entfernen begann. Erst da hatten sie zu schmerzen angefangen. Der Schmerz war jedoch nicht weiter wichtig. Tiel war weitaus mehr an dem interessiert, was um sie herum vorging, als an den oberflächlichen Verletzungen, die sie erlitten hatte.
Auf einer Tragbahre sitzend - sie hatte sich geweigert, in den Krankenwagen zu steigen -, versuchte sie, um den Mann, der sie behandelte, herum zu sehen. Es war eine chaotische Szene. Im blassen Schein der Morgendämmerung erzeugten die Lichter von einem Dutzend Polizeifahrzeugen und Notarztwagen ein Schwindel erregendes Kaleidoskop von blitzenden, farbigen Lichtern. Ärzte und Sanitäter - das heißt, diejenigen, die nicht Ronnie zu Hilfe geeilt waren - kümmerten sich um Tiel, Undercover-Agent Martinez und Cain.
Den Medien war der Zutritt zum unmittelbaren Schauplatz des Geschehens verwehrt worden, aber am Himmel schwirrten unentwegt Nachrichten-Helikopter wie riesige Insekten. Auf einer Anhöhe mit Ausblick auf die Bodensenke, die als Rojo Fiats bekannt war, parkte ein ganzer
Konvoi von Fernsehübertragungswagen. Die Satellitenschüsseln auf ihren Dächern reflektierten die Strahlen der aufgehenden Sonne.
Normalerweise wäre dies die Art von Schauplatz gewesen, auf dem Tiel McCoy so richtig zu Topform auflief. Normalerweise hätte sie sich hier voll und ganz in ihrem Element gefühlt. Aber der gewohnte Adrenalinstoß hatte sich diesmal einfach nicht einstellen wollen, als sie in die Linse der Videokamera blickte, um ihren Livebericht zu erstatten.
Sie hatte versucht, ihren üblichen Enthusiasmus aufzubringen, doch sie wusste, er fehlte, und sie konnte nur hoffen, dass die Fernsehzuschauer nichts davon merken würden, oder falls doch, dass sie dann ihren Mangel an Elan auf die Nerven zermürbende Tortur zurückführen würden, die sie durchgemacht hatte.
Ihre Berichterstattung hatte ganz
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