Nacht ohne Schatten
irgendetwas Sinnvolles mit seiner Mokkastimme anfangen, statt sie zu belästigen. Judith lässt ihn reden, biegt in die Innere KanalstraÃe ein. Sie denkt an den Brand und Wolfgang Berger. Ob es Zufall sein kann, dass er, der sich auÃer für seine Versetzung auf die S 5 offenbar nie für irgendetwas engagiert hatte, ausgerechnet auf dieser Linie ermordet wurde, und wie das mit dem Brandanschlag auf die Pizzeria zusammenhängt.
»Ich melde mich wieder«, sagt der Journalist, und aus irgendeinem Grund hinterlässt seine Stimme eine unbestimmte Sehnsucht, gerade als Judith am Rechtsmedizinischen Institut parkt, unmittelbar neben dem Melatenfriedhof, wo Patrick nun schon seit mehr als drei Jahren begraben ist.
Karl-Heinz Müller und Manni sind bereits im Obduktionskeller. Der Rechtsmediziner hat gute Laune, wie immer, wenn er seziert. Er zwinkert Judith über seinem Mundschutz zu, nennt sie
Star of the Night,
pfeift sogar ihr zu Ehren ein paar Takte von Manfred Manns
Davyâs on the Road Again.
Seine russische Kollegin scheint beim Arbeiten lieber zu schweigen. Sie nimmt Judiths Ankunft mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis und beugt sich sofort wieder über das Brandopfer, das geschrumpft und grotesk verbogen auf dem Metalltisch liegt. Die dunklen Augen der Russin sind unergründlich.
»Leichenbittermiene«, flüstert Manni Judith zu. »Endlich weià ich, was das ist.«
Judith lächelt. In der Nacht hat sie auf einmal befürchtet, die mühsam erarbeitete Harmonie mit Manni sei vorbei. Eswar der Keller, beruhigt sie sich jetzt, die verkitschte Grausamkeit, mit der dieser Raum die Bedeutung von Liebe ad absurdum führt.
Judith hat schon vor langer Zeit begriffen, dass man Karl-Heinz Müller nicht mit Fragen bedrängen darf. Sie spürt, wie Manni anhebt, etwas zu sagen, berührt seinen Arm und schüttelt den Kopf. Ekaterina Petrowa ist diese Geste nicht entgangen, doch sobald sie bemerkt, dass Judith sie ansieht, senkt sie erneut den Blick. Für eine Weile sind Karl-Heinz Müllers fröhliches Pfeifen und das Klappern der Instrumente das einzige Geräusch im Raum. Die leeren Augenhöhlen des Toten scheinen etwas an der Decke zu fixieren. Sein Geruch erinnert an verkohltes Grillfleisch â eine Assoziation, die alles andere als appetitanregend ist.
Der Rechtsmediziner konzentriert sich jetzt auf den rechten Unterarm des Toten. Etwas, das kein verbranntes Fleisch ist, hängt daran. Nach etwa zehn Minuten winkt er Judith näher an den Tisch. Ihr Magen flattert, sie zwingt sich, mit leicht geöffnetem Mund zu atmen. Ein Moschushauch Aftershave steigt ihr in die Nase. Azzaro, einer von Karl-Heinz Müllers persönlichen Favoriten, der sie an die gemeinsamen Bouleabende im Sommer erinnert.
»Die Kunststoffummantelung der Handschelle ist sehr tief eingebrannt.« Die Pinzette des Rechtsmediziners drückt in das schwarze, ledrige Fleisch.
»Hat er gelebt, als er ans Bett gefesselt wurde?«
»Eine gute Frage.« Müllers stahlblaue Augen blinzeln listig. »Jedenfalls dürfte er schon bewusstlos gewesen sein, als die Flammen ihn erreichten.«
Der Präparator setzt die Knochensäge auf dem Brustkorb an. Das Hochfrequenzsirren klingt wie ein Jammerton. Die Haustür der Pizzeria war verschlossen, die Feuerwehr musste sie aufbrechen. Wie ist der Täter hinein- und wieder hinausgekommen? Hat er sein Opfer im Schlaf überrascht, hat es ihn eingelassen? Hat er es getötet, bevor er das Feuer legte? Nein,
denkt Judith, so war es nicht. Beinahe glaubt sie, das Szenario vor sich zu sehen. Nacht. Einsamkeit. Der Schmerz der Fesselung, die in die Haut schneidet, wenn man sich bewegt. Spätestens davon muss der Mann, dessen Körper jetzt auf dem Sektionstisch liegt, aufgewacht sein, und bald darauf muss er das Feuer bemerkt haben, das Prasseln der Flammen, den Rauch. Die Angst zu verbrennen ist stark genug, Menschen dazu zu bringen, in den Tod zu springen; nicht erst seit dem 11 . September ist das bekannt.
Die russische Ãrztin richtet sich auf. »RuÃpartikel im linken Lungenflügel«, sagt sie leise. »Und auch im Magen.«
Daliegen, nicht fliehen können, das Feuer kommen hören. Was hat dieser Mann getan, so viel Hass auf sich zu ziehen? Judith räuspert sich.
»Wir müssen wirklich dringend wissen, wer er ist.«
Karl-Heinz Müller deutet eine Verbeugung an. »Die
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