Nacht ohne Schatten
Röntgenaufnahmen seines Kiefers befinden sich bereits per Kurier auf dem Weg zum Zahnarzt des Pizzeriabesitzers, der versprochen hat, damit direkt in seine Praxis zu fahren.«
Auf einmal hat Judith das Gefühl, keine Luft zu kriegen, ins Schwarze zu fallen, so wie letzte Nacht, als sie über den verkohlten Dielenboden kroch. So wie in ihren schlimmsten Vorstellungen von dem Moment, in dem sie gezwungen sein wird, ihren Weihnachtstombola-Hauptgewinn einzulösen. Ein Fallschirmsprung. Sie muss verrückt gewesen sein, das zu akzeptieren. Stand auf der Bühne, sprachlos vor Entsetzen, mechanisch lächelnd, während die Kollegen johlten und der Moderator wahre Begeisterungshymnen über ihr einmaliges Glück ins Mikrofon schwadronierte. Ich freue mich sehr, brachte sie schlieÃlich heraus, hob den Gutschein hoch, immer noch lächelnd, weil sie zu stolz war, zu dumm war, zu feige, ganz einfach zu sagen: Danke, nein.
Sie stolpert die Treppe rauf, hinaus auf den Vorplatz, setzt sich auf die regennasse Betoneinfassung des Kiesbeets, in dem Karl-Heinz Müller im Sommer Boule trainiert. Sie braucht einePause, hat zu wenig geschlafen, und auÃer einem verschrumpelten Apfel und einem Kirschjoghurt, den allerletzten Restbeständen ihres Kühlschranks, nichts im Magen. Ihr Handy spielt Queen, sie findet ihr Tabakpäckchen und darin eine fertig gedrehte Zigarette, die sie anzündet, bevor sie den Anruf entgegennimmt.
»Mir ist noch was eingefallen«, sagt der Mann, der mit dem S-Bahn-Fahrer Wolfgang Berger befreundet gewesen sein will und dennoch so wenig über ihn zu sagen weiÃ.
»Ja?« Sie unterdrückt ein Husten, inhaliert tief. Sie muss mit dem Rauchen aufhören, wirklich, bald, auch wenn sie sich nicht vorstellen kann, wie.
»Ich glaub, im Spätsommer, da war er verliebt. Er hat sogar einmal was von Heiraten erzählt.«
»Lassen Sie mich raten: Sie wissen aber nicht, wen.«
»Bitte«, sagt der Mann. »Mehr kann ich nicht sagen. Es gab im September eine Frau in Wolfgangs Leben, aber er hat mir nicht einmal ihren Vornamen verraten. Und dann hat sich das wohl wieder erledigt gehabt.«
* * *
Der Waschraum des Rechtsmedizinischen Instituts ist für deutsche Verhältnisse nicht gerade luxuriös, aber das Wasser, das auf Ekaterinas Körper herunterströmt, ist warm, der Strahl kräftig, und ihr neues Duschgel duftet nach Passionsblüten. Komm doch gleich mal in mein Büro, ich hab da noch was für dich, hat Oberarzt Karl-Heinz Müller nach der Obduktion gesagt. Ekaterina schlieÃt die Augen, knetet eine Kurpackung in ihr Haar, gönnt sich eine Extradosis Duschgel. Das Schicksal des toten Italieners â noch während der Obduktion hat dessen Zahnarzt die Identität des Brandopfers als Luigi Baldi, Inhaber der Pizzeria Rimini, bestätigt â hat sie mitgenommen, was unverständlich ist, unprofessionell, und schon deshalb nicht passieren darf.
Als Ekaterina mit dem Medizinstudium begann, war nicht klar gewesen, dass sie sich für die Rechtsmedizin entscheiden würde. Ãrztin wollte sie werden, auch das, wie so vieles in ihrem Leben, das Resultat des sanften, beharrlichen Einflusses ihrer GroÃmutter. Doch schon im ersten Semester erkannte Ekaterina, dass ihr Beweggrund nicht das Heilen war, sondern das Forschen. Sie wollte verstehen, wie dieser komplexe, fragile Organismus Mensch funktionierte, die Geheimnisse des Lebens ergründen und vielleicht noch mehr die des Sterbens. Die erste Nachtwache auf einer Intensivstation für Brandopfer und die erste Lektion in der Pathologie gaben dann den Ausschlag. Die Schmerzen und das Leid konnte Ekaterina nicht ertragen. Die Geheimnisse der Toten schreckten sie nicht.
Sie trocknet sich ab, holt Deo, Gesichtscreme und Körperlotion aus ihrem Spind. Was will Oberarzt Müller von ihr? Warum bringt ihre neue Stelle in Köln, auf die sie sich so gefreut hatte, eine unangenehme Ãberraschung nach der anderen mit sich? Sie wählt einen dunkelroten Lippenstift, passend zu dem taillierten Pulloverkleid, das sie heute trägt. Sie hat sich fest vorgenommen, den Rest des Wochenendes zu genieÃen, einen Schaufensterbummel durch die FuÃgängerzone zu machen oder eines der Kunstmuseen zu besuchen und auf jeden Fall irgendwo ein groÃes Stück Torte zu essen.
Der vollkommen unerwartete Geruch eines Nudelgerichts mit TomatensoÃe empfängt sie auf dem
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