Nacht ohne Schatten
das seit einigen Jahren wochenlang aus ihrem Körper sprudelt. Blut, das nicht zu stoppen ist, und niemand kann ihr sagen, warum es flieÃt oder wie lange noch, oder zumindest, wann sie die Wechseljahre endlich hinter sich hat. Die Gebärmutter ist das Zentrum weiblicher Kreativität, versöhnen Sie sich mit Ihrem Körper, hatte eine Heilpraktikerin geraten, die Thea schlieÃlich konsultierte. Thea hatte sie ausgelacht. Es geht nicht um Versöhnung, das hat sie gelernt in ihrem Leben, es geht ums Durchhalten, ums Trotzdem, jeden Tag.
Trotzdem. Obwohl. Theas ganzes Leben ist voll davon. Gegen den Widerstand ihrer Eltern hat sie eine Schreinerlehre gemacht und später am Abendgymnasium das Abitur. Obwohl niemand sie unterstützte, ist es ihr gelungen, einen Studienplatz an der Düsseldorfer Kunstakademie zu ergattern. Trotz des Unfalls arbeitet sie noch immer mit Stein.
Kalter Schweià perlt auf ihrer Stirn, als sie an der Haltestelle Gewerbepark auf den Bahnsteig klettert. Sie wirft den Kopf in den Nacken, hält sich sehr gerade, auch wenn ihr der Rucksack mit dem Wein für ihre Gäste tief in die Schultern schneidet. Es ist noch dunkel, niemand auÃer ihr ist hier ausgestiegen, das Quietschen der S-Bahn, die mit verriegelten Türen zu ihrer Warteposition rollt, ist das einzige Geräusch. Ein Mensch ist dort drüben erstochen worden, hat die Kommissarin gesagt. Ein S-Bahn-Fahrer. Die Kommissarin hat ihr ein Foto gezeigt, aber Thea hat den Mann darauf nicht erkannt. Auch wenn sie die S 5 jeden Tag benutzt, hat sie noch niemals auf den Menschen in der Fahrerkabine geachtet.
Unwillkürlich schaut Thea hinüber zu den Fenstern der Ateliers. Nada ist anders. Unbändig neugierig auf alle und alles. AuÃerdem ist sie eine Nachtarbeiterin. Manchmal schon ist Thea ihr am frühen Morgen auf der Treppe begegnet, wenn sie selbst gerade kam und Nada erst ging. Ist Nada vorgestern Nacht hier gewesen? Hat sie den Mord an dem S-Bahn-Fahrer beobachtet, war sie deshalb gestern nicht im Atelier? Nirgendwo in der Kunstfabrik brennt Licht, ein sicheres Zeichen dafür, dass niemand da ist. Das ist um diese Uhrzeit nicht weiter ungewöhnlich, und normalerweise freut sich Thea immer auf die Ruhe, warum hat sie jetzt so ein merkwürdiges Gefühl?
Konzentrier dich auf dich und auf deine Schritte, drückden Schmerz weg, denk nicht an den Stock, sondern an das Treibholz, mit dem du gleich arbeiten wirst. Der Aufzug zur StraÃe stinkt nach Pisse und braucht so lange, dass Thea die fischigen Ammoniakdämpfe einatmen muss. Der kurze Weg über die StraÃe zur Kunstfabrik erfordert weitere Disziplin. Künstlerin sein. Frei sein, sich nicht verbiegen, das ist das Leben, für das sie sich entschieden hat. Das ist, was sie nicht aufgeben will, auch wenn dieses irrwitzige, rauschhafte Glück der ersten Jahre an der Kunstakademie längst verflogen ist. Die Welt wollten sie und die anderen Auserwählten damals verändern, die Kunst revolutionieren, mindestens. Sie schliefen wenig und ernährten sich von Baguette, Camembert, Rotwein und ihren Gesprächen. Sie vergaÃen die Realitäten und gaben sich hin: der Kunst, ihren Utopien, einander. Ich bin angekommen, hatte Thea damals geglaubt. Nichts kann mich bremsen. Zielstrebig arbeitete sie, die Autodidaktin, sich vorwärts bis zur Meisterklasse. Schnell gab es sogar erste Kontakte zu Galerien.
Thea erreicht die Fabrik, schiebt den Schlüssel in die Stahltür, verschlieÃt sie von innen wieder. Die Gerüche von Farbe, Holzstaub, Leim und Terpentin begrüÃen sie. Thea lehnt sich einen Moment an die Wand, beruhigt ihren Atem, bevor sie die letzten Treppen in Angriff nimmt. Vor Nadas Tür hält sie inne, klopft, lauscht, drückt auf die Klinke. Die Tür ist verschlossen, alles ist still. Thea hinkt weiter, öffnet ihr eigenes Atelier, befreit sich als Erstes von dem schweren Rucksack. Ihr Bein pocht heià und unerträglich, Tränen schieÃen ihr in die Augen, Tränen, die sie zurückblinzelt, weil Weinen nichts nützt.
Du bist so hart wie deine Steine, hatte ihr einer ihrer Liebhaber in Düsseldorf vorgeworfen. Sie lieà ihn abblitzen, ohne etwas zu erklären. Sie war kein Stein, sie war die Herrin der Steine, formte sie, wie es ihr gefiel. Natürlich wechselte sie auch die Liebhaber, wann und wie sie das wollte.
Sie hatte nicht daran gedacht, dass Zurückweisung Rachenach
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