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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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ihre Hilfe brauchen, da wir in diesem Haus zwei unidentifizierbare Personen gefunden haben.«
    Â»Du hast ihnen gesagt, dass das Mädchen noch lebt?«
    Â»Ich habe gesagt ›unidentifizierbar‹.« Judith Kriegers Stimme schneidet. In den letzten Monaten hat sie selten ihren Dienstgrad raushängen lassen, doch seit sie in diesem Keller war, scheint ihre Sanftmut aufgebraucht. Mit ungewohnt fahrigen Bewegungen dreht sie sich eine Zigarette und hustet ausgiebig, bevor sie sie anzündet.
    Auf einmal denkt Manni an die Waschtage seiner Mutter. Immer hat sie alles in den Garten gehängt, wenn das Wetter es zuließ. Bettwäsche, Hosen, Socken, Pullis, Tischtücher, die Feinripp-Garnituren seines Vaters – kurz im Sommer, lang im Winter –, ausgeleiert und mit Eingriff, vollkommen asexuell.
    Nur ihre eigene Unterwäsche hat seine Mutter im Keller getrocknet, dabei war die aus heutiger Sicht wahrlich kein Reißer. Zeltartige, hautfarbene Bustiers und Miederhosen, die Manni als Jungen dennoch so faszinierten, dass er sich an Waschtagen heimlich in den Keller stahl und den Zeigefinger in die Synthetikseide pikte.
    Und mein Vater, überlegt er jetzt, wie fand der diese Kollektion? Genügte sie ihm oder nahm er sie klaglos hin, weil er die Hausmannskost während seiner Reisen aufpeppte? Günter Korzilius, der große Fernfahrer. Immer hatte seine Mutter auf ihn gewartet und Manni ebenso. Doch glücklicher waren sie ohne ihn.
    Der Regen setzt wieder ein, der Wind. Die Bahntrasse über ihnen ist leer. Die S-Bahn, die der Bahnfahrer Wolfgang Berger als eine seiner letzten Taten auf dieser Welt zur Warteposition gelenkt hatte, haben die Spurensicherer wegbringen lassen, die erste S-Bahn des Sonntags wird erst in zwei Stunden fahren. Ist es theoretisch denkbar, dass Berger sterben musste, weil der Streit mit einem Fahrgast eskalierte, hat Manni einen Kollegen Bergers gefragt, der dieselbe Strecke fährt. Selbstverständlich sei das denkbar, hat der Mann, ohne zu zögern, geantwortet. Wahnsinnige seien in jeder Bahn unterwegs. Verzweifelte, Frustrierte, Abgestumpfte, Heimat- und Haltlose, und täglich würden es mehr.
    Â»Morgen«, sagt die Krieger mit Chefinnenstimme. »Lass uns gehen. Ich brauch jetzt ’ne Dusche.«
    Sie hat recht, sie müssen Pause machen, hier können sie im Moment eh nichts mehr tun. Dennoch fährt Manni nicht nach Hause, sondern zur städtischen Klinik, wo es nach Desinfektionsmittel und Kräutertee riecht. Sein letzter Krankenhausbesuch vor einem halben Jahr endete damit, dass er seinen Vater anschrie. Manni klingelt an der Intensivstation, nachdrücklicher, als es nötig wäre.
    Â»Wann können wir das Brandopfer aus der Pizzeria vernehmen?«
    Die Stationsärztin blinzelt ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Bis jetzt können wir noch nicht mal sagen, ob die junge Frau überlebt, und wenn sie das tut, ob sie sich an irgendwas erinnern kann.«
    Â»Sie meinen, sie könnte durch die Rauchvergiftung einen Hirnschaden erlitten haben?«
    Statt ihm zu antworten, lässt ihn die Ärztin einfach stehen.
    Theodora Markus fährt an diesem Sonntagmorgen schon früh in ihr Atelier. Treibholz ist die Lösung für ihr Problem, diese Idee hat sie aus dem Schlaf gerissen und elektrisiert. Treibholz ist ein ganz einzigartiges Material, das seinen Lebenszyklus schon beendet hat, das Vergänglichkeit symbolisiert, den ewigen Kreislauf von Leben und Tod. Treibholz wird diese Bedeutung mit in die Skulptur transportieren und zugleich als stilisierter Flügel noch eine neue Bedeutung bekommen.
    Thea lächelt, beinahe glaubt sie, das Endprodukt schon vor sich zu sehen. Stein, von ihrem Meißel gezeichnet, darüber das Holz: glatt gewaschen und gebogen von der Natur, bleich und knöchern. Es ist ihr 51 . Geburtstag heute, nicht wirklich ein Grund zum Jubeln. Nachmittags werden natürlich trotzdem ein paar Freunde und Kollegen ins Atelier kommen, um ihr zu gratulieren. Aber bis dahin ist noch viel Zeit, kostbare Stunden, die sie allein mit ihrer Arbeit verbringen kann.
    Die S 5 zockelt am Hauptbahnhof vorbei, weiter nach Westen. Thea ist allein in ihrem Waggon. Sie streckt ihr krankes Bein aus, krümmt es wieder, beißt die Zähne zusammen, als der Schmerz wie eine Welle bis zur Hüfte schießt. Einen Augenblick lang glaubt sie, das Blut in ihrem Unterleib zu spüren, das Blut,

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