Nacht ohne Schatten
Flur vor dem Büro ihres Vorgesetzten. Die Erklärung dafür besteht in zwei dampfenden Plastikschalen matschiger Lasagne, die Karl-Heinz Müller und die sommersprossige Kommissarin Krieger, deren Blick Ekaterina aus irgendeinem Grund nervös macht, auf den Knien balancieren. Die Art, wie die beiden sich ihre Mahlzeit einverleiben, hat etwas Intimes. Der blonde Kommissar mit dem anzüglichen Grinsen hat sich offenbar schon verabschiedet.
»Hunger?« Karl-Heinz Müller deutet mit dem Ellbogen auf das Regal, wo sich zwischen Fachbüchern, anatomischenModellen und allerlei staubigem Krimskrams weitere Fertiggerichte stapeln. Auf dem Boden unter Müllers hoffnungslos chaotischem Schreibtisch klafft die geöffnete, von diversen Mahlzeiten bespritzte Glastür einer Mikrowelle.
»Nein, danke. Sie wollten mich sprechen?«
»Du.« Der Oberarzt schaufelt einen Löffel Nudeltomatenmatsch in seinen Mund, kaut, schluckt und betupft seinen Mundwinkel mit einem gebügelten Stofftaschentuch, bevor er weiterspricht. »Karl-Heinz, Judith, Ekaterina! Unter Kollegen duzen wir uns.«
Ekaterina nickt, was bleibt ihr auch übrig. Sie ist die Neue, muss die Regeln akzeptieren. Sie weià nicht, wo sie hingucken soll, während sich die beiden erneut dem Tomatenmatsch widmen. Vorsichtig lehnt sie sich an ein Regal und schaut in den Regen, der auf dem nicht gerade sauberen Fenster Schlieren zieht. Sie zählt sich all die guten Seiten ihres deutschen Lebens auf. Die Schwäne, denen sie am Morgen Brot gebracht hat, ihr Gehalt. Russland ist ein trauriges Land, selbst die Birken der Taiga sehen auf mysteriöse Art so aus, als trügen sie an den Folgen von Unterdrückung und Krieg. Auch die Geschichte Deutschlands ist alles andere als fröhlich, aber hier sind die Bäume trotzdem nicht traurig, und falls die Menschen es sind, verbergen sie das hinter dem Glauben an Fortschritt und hektischer Betriebsamkeit. Niemand sitzt hier irgendwo herum und singt melancholische Lieder.
Koordiniert wie Synchronschwimmer beenden Karl-Heinz Müller und die Kommissarin ihre Mahlzeit und greifen nach Tabak und Zigaretten. Ekaterinas Vorgesetzter seufzt zufrieden.
»Judith möchte, dass jemand sich unsere Ãberlebende ansieht. Ich habe dich empfohlen, weil du ja jetzt unsere Frauenexpertin bist.«
Die Kommissarin fixiert Ekaterina mit ihren eigentümlich zweifarbigen Augen, als zweifele sie an ihrer Eignung für diesen Job. »Ich glaube, diese Frau wurde gefangen gehaltenund zur Prostitution gezwungen. Ich brauche eine genaue Diagnose, will wissen, wann sie wieder vernehmungsfähig ist. Am besten, wir fahren gleich los.«
Ich habe frei, ich bin nicht zuständig, will Ekaterina sagen. Und schon gar nicht bin ich eine Expertin für Frauen. Doch wenn sie das sagt, wird sie das Misstrauen der Kommissarin nur noch mehr schüren, also nickt sie und holt Tasche, Mantel und Mütze aus ihrem Büro.
Es ist nicht weit bis zur Universitätsklinik. Wind drückt Regenböen gegen die Windschutzscheibe, immer noch Westwind, ohnehin zu stark für einen Schaufensterbummel. Die Kommissarin fährt schnell. Keine Widerrede, ich habe hier das Sagen, signalisiert jede ihrer Gesten, und das scheint auch im Krankenhaus zu wirken, denn im Handumdrehen sind sie und Ekaterina im Krankenzimmer, allein mit der Patientin. Das Beatmungsgerät summt leise. Die Herzfrequenz auf dem Monitor läuft stabil. Ekaterina streift Kittel, Handschuhe und Mundschutz über. Die Kommissarin macht eine Bewegung hinter ihr, die Ekaterina als Aufforderung, sich zu beeilen, missversteht. Doch zu ihrer Ãberraschung drängt sich die Kommissarin wortlos an ihr vorbei, beugt sich über die Komapatientin und streichelt ihre Wange.
»Ich habe jemanden mitgebracht, der Sie noch mal untersucht«, sagt sie beinahe zärtlich. »Sie brauchen keine Angst zu haben, es ist eine Frau, sie tut Ihnen nicht weh.«
Arzt ist Arzt, will Ekaterina sagen, beherrscht sich aber und konzentriert sich auf die Patientin. Ihre Wangen sind bleich. Irgendetwas an ihr ist beunruhigend vertraut. Ekaterina zieht die Augenlider hoch und leuchtet. Die Iris sind himmelblau, die Pupillen weiten sich nur sehr verzögert. Keine Petechien, die Haut am Hals ist makellos, der Luftröhrenschnitt, durch den die Patientin mit Sauerstoff beatmet wird, ist die einzig sichtbare Verletzung. Auf dem linken Handrücken klebt ein
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