Nacht ohne Schatten
sich ziehen kann. Sie hatte nicht wahrhaben wollen, dass es Kräfte gibt, die so groà sind, dass selbst Stein zerbricht.
* * *
Der Tag schwimmt bleigrau auf die Windschutzscheibe zu, während Judith den Dienstwagen auf die Zoobrücke lenkt. Links ragt der Dom aus der Altstadt, die spitzen Türme von Wolken verhangen.
Because the night,
singt Patti Smith beharrlich in Judiths Kopf, und die Bilder aus dem Gefängniskeller unter der ausgebrannten Pizzeria tanzen dazu, drehen sich, foppen sie, versuchen ihr etwas zu sagen, was sie nicht versteht.
Es gibt zu viele Einzelheiten, zu viele Fragen. Das Feuer war gelegt, haben die Brandermittler inzwischen bestätigt, an der exakten Analyse tüfteln sie noch. Es gilt einen Mörder zu finden, der für zwei Tote und eine Schwerverletzte verantwortlich ist, deren Ãberleben an einem seidenen Faden hängt. Polizeiarbeit ist immer ein Trial-and-Error-Prozess â nichts vorschnell ausschlieÃen, offen bleiben, immer wieder neu kombinieren â, doch diesmal stehen sie vor einem Rätsel mit zu vielen Unbekannten, und es ist nicht auszuschlieÃen, dass einer dieser Unbekannten weitere Menschen töten wird. Judith wechselt auf die Mittelspur und flucht, als sich auch dort der Verkehr verlangsamt. Sie muss in die Rechtsmedizin, ist schon zu spät. Morgenmeeting, Pressekonferenz und die Vernehmung eines S-Bahn-Fahrers liegen hinter ihr, der angeblich mit Wolfgang Berger befreundet war. Unbedingt habe Berger im November auf einmal auf die S 5 versetzt werden wollen, hat der Mann zu Protokoll gegeben. Doch den Grund dafür konnte oder wollte er nicht nennen. Und auch alles andere, was er über den Ermordeten zu berichten wusste, blieb unpersönlich, diffus, fast so, als habe er Berger doch nicht so gut gekannt, wie er zunächst behauptet hatte. Doppelkopf hatten die beiden hin und wieder gespielt, oder gekegelt. Sich über ihren Job ausgetauscht. War Berger unglücklich? Glücklich? Hatte er sich vor seinerErmordung verändert, wollte Judith wissen. Bergers Kollege knetete seine Hände und schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Wolfgang war bescheiden, sagte er schlieÃlich, zufrieden mit dem, was er hatte. â Warum hat er sich dann auf die Linie S 5 versetzen lassen? â Ich weià es nicht. Darüber hat Wolfgang nicht gesprochen. Aber es schien ihm sehr wichtig zu sein.
Judiths Handy reiÃt sie aus ihren Gedanken. Sie nimmt das Gespräch an, ohne aufs Display zu sehen, wechselt ein weiteres Mal die Spur.
»Frau Krieger?« Eine ihr fremde Stimme dringt aus der Freisprechanlage. Warm, tief und aus irgendeinem Grund viel zu nah.
»Ja?« Die Rauchgase kratzen noch immer in ihrem Hals.
»Mein Name ist Gero Sanders, ich bin Journalist. Ich wollte Sie vorhin nach der Pressekonferenz noch erwischen, aber Sie waren zu schnell.«
Die Pressestelle des Polizeipräsidiums bezeichnet Journalisten neuerdings als Medienpartner und rät zur Kooperation. Doch das, was die Medienpartner wollen, ist ein Immermehr und Immerschneller und vor allem immer grausigere Details. Sie haben beim Morgenmeeting hin und her diskutiert, ob sie das Foto der bewusstlosen Frau aus dem Keller veröffentlichen sollen. Sie müssen herausfinden, wer sie ist, das spricht dafür, doch zugleich müssen sie die Schwerverletzte auch schützen. Vorläufig keine Presse, hat Millstätt schlieÃlich entschieden. Millstätt, der die Leitung der Ermittlungen übernommen hat, ein sicheres Anzeichen dafür, dass auch der Chef des KK 11 diesen Fall für extrem schwer zu handhaben hält.
»Ich kann Ihnen nichts Neues sagen.« Woher hat dieser Kerl eigentlich ihre Handynummer?
Er lacht, als hätte er genau mit dieser Antwort gerechnet. »Vielleicht doch. Es geht mir nämlich gar nicht so sehr um den aktuellen Fall. Es geht mir um Sie.«
»Tatsächlich.«
»Ich schreibe eine gröÃere Reportage über Polizeiarbeit inGroÃstädten für das Magazin
Stern.
Eine Hauptkommissarin der Mordkommission, das ist sehr reizvoll, ich dachte, wir könnten â¦Â«
»Die Antwort ist Nein.« Die Pressestelle muss ihre Handynummer rausgegeben haben. Sie muss sie zurückpfeifen. Gleich nachher. Unbedingt.
»Ich verstehe natürlich, dass Sie momentan sehr eingespannt sind.« Der Mann sollte Hörbücher besprechen, im Rundfunk auftreten, sich als Märchenonkel verdingen,
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