Nacht ohne Schatten
wildlockige Kommissarin Krieger und ihr schnöseliger Kollege Korzilius, von dem sich Ekaterina erst vor einer Stunde verabschiedet hat. Er zwinkert ihr zu und grinst, wirkt dabei aber nicht mehr ganz so von oben herab wie vor ihrem gemeinsamen Termin im Krankenhaus.
»Also, Vorhang auf«, sagt Karl-Heinz Müller und hebt mit Schwung das grüne Leichentuch von dem S-Bahn-Fahrer, den er schon in Bauchlage auf dem Obduktionstisch platziert hat. Eine kräftige Brise Aftershave steigt Ekaterina in die Nase, und es dauert einen Moment, bis sie begreift, dass natürlich nicht der Tote parfumiert ist, sondern ihr Chef.
»Katja«, intoniert Müller theatralisch. »Bitte schön. Zeig uns, warum wir die verehrte Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei mit einer Ergänzung zu unserem Bericht belästigen müssen.«
»Katja?«, fragt Manfred Korzilius.
»Die russische Kurzform von Ekaterina«, verrät Müller mit Besitzerstolz. »Hat sie mir beim Vorstellungsgespräch verraten.«
Ekaterina fühlt, wie ihr die Röte ins Gesicht schieÃt. Sie hatte damals einen Moment nicht aufgepasst und ihr Prinzip vernachlässigt, Privates und Berufliches strikt zu trennen, ganz beseelt von der mündlichen Zusage, in Köln arbeiten zu können. Das rächt sich jetzt.
»Katja«, wiederholt der Schnöselkommissar überflüssigerweise, wodurch sich auch seine Kollegin bemüÃigt fühlt, persönlich zu werden.
»Wo genau aus Russland kommst du eigentlich her?«, fragt sie.
»Kolahalbinsel«, sagt Ekaterina knapp, weil die Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre mit den traurigen Birken auf der Klosterinsel nun wirklich niemanden etwas angehen. »Ein Dorf in der Nähe von Nikel.«
Sie sieht genau, dass keiner der drei Deutschen Nikel kennt oder auch nur eine Vorstellung davon hat, wo die Kolahalbinsel liegt, aber sie weià aus Erfahrung, dass jede Erklärung nur zu weiteren Fragen führen wird. Energisch zieht sie sich den Mundschutz vors Gesicht und positioniert die Untersuchungslampe im optimalen Winkel zu Einstichwunde Nummer fünf.
»Hier ist ein Schatten über der Wunde«, beginnt sie ihrenBericht, der die Aufmerksamkeit der Deutschen augenblicklich in eine weniger gefährliche Richtung lenkt. »Und hier über diesem Einstich gibt es einen identischen Befund. Sichtbar wurde das jedoch erst 24 Stunden nach der Obduktion.«
Wie immer, wenn sie über ihre Arbeit spricht, gewinnt sie schnell an Sicherheit. Präzise skizziert sie ihre Nachuntersuchungen und die typische Post-mortem-Wundentwicklung unter Kühlbedingungen. So einfach wie möglich erläutert sie, dass Wunden vertrocknen und dadurch in der Regel schwerer zu begutachten sind, dass aber minimale Hautabschürfungen wie die vorliegenden durch das Austrocknen nachdunkeln können.
»Die Stiche wurden mit erheblicher Wucht ausgeführt, wodurch die Klinge teils in voller Länge in den Körper stieÃ. Bei den Schatten über den Wunden handelt es sich um Abdrücke des Messergriffs«, endet sie. »Ihr Abstand zu den Wunden beträgt etwa einen Zentimeter.«
Einen Moment lang sagt keiner etwas. Ekaterina hebt den Blick. Karl-Heinz Müller zeigt noch immer keine Anzeichen von verletzter Eitelkeit, im Gegenteil, er wirkt bestens gelaunt. Der Kommissar federt auf den Ballen seiner Sportschuhe, als bereite er sich für einen Dauerlauf vor. Judith Kriegers merkwürdige Augen mustern Ekaterina aufmerksam.
»Ein wichtiger Hinweis«, sagt sie.
Ekaterina wiegt den Kopf. »In der Tat erlauben die Schatten gewisse Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Tatwaffe.«
»Es gibt Messer mit Griffschutz«, sagt Korzilius. Sie wirft ihm einen abschätzenden Blick zu. Er ist schnell, denkt sie. Ich darf ihn nicht unterschätzen.
»Australische Bowiemesser«, verkündet der Kommissar, wie zur Bestätigung ihrer Gedanken. »Die haben so ein Quermetall über der Klinge, damit man mit den Fingern nicht versehentlich auf die Klinge rutscht, wenn man ein Krokodil absticht.«
»Das Quermetall nennt man Parierelement«, sagt Karl-Heinz Müller. »Bowiemesser haben das zwar, kommen aberfür unsere Zwecke nicht in Frage, denn ihre Klinge ist zweischneidig und bis zu zwanzig Zentimeter lang.«
Korzilius pfeift durch die Zähne. »Da spricht ein Kenner.«
Karl-Heinz Müller grinst. »Ich hab
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