Nacht ohne Schatten
drängeln und stürzen sich auf die Fotos wie ausgehungerte Krähen. Ein unbekanntes, bewusstloses Mädchen mit einem hübschen Gesicht, das ist definitiv eine willkommene Zutat zur verkohlten Leiche eines Pizzabäckers. Man kann förmlich zuschauen, wie die Schlagzeilen und Bildunterschriften in ihren Köpfen zu tickern beginnen. Manni betrachtet das Foto zum x-ten Mal. Wird dieses Mädchen je wieder aufwachen und dann etwas aussagen können, oder ist sie nur noch ein schöner Körper, den die Intensivmedizin am Sterben hindert? Wir wissen es nicht, hat die Oberärztin gesagt. Wir können nicht sagen, wie lange ihr Gehirn ohne Sauerstoff auskommen musste. Manni versucht sich vorzustellen, wie sie herkam aus Russland, was sie hier wollte, wie es ihr ergangen ist. Ein naives Mädchen, wie so viele andere auch, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs aus ihren armseligen Dörfern im Osten in die EU transportiert worden sind. Menschenhandel ist ein Milliardengeschäft. Es gibt seriöse Schätzungen, nach denen jede Zwangsprostituierte, die in einem reichen Industrieland anschafft, ihren Besitzern pro Jahr 50 000 Euro Gewinn einbringt, ohne Steuerabzug natürlich, ein ansehnliches Jahresgehalt.
Millstätt, Judith und der Polizeipressesprecher sitzen nebeneinander auf dem Podest und blicken mit ernsten Mienen in die wabernde Journalistenhorde. Schon in der Rechtsmedizin ist Manni aufgefallen, dass seine Kollegin sich heute schick gemacht hat. Jetzt hat sie auch noch dunkelbraunen Lippenstift aufgetragen, was ihre sommersprossige Haut noch blasser wirken lässt als sonst. Ein cleverer Trick, denn das suggeriert natürlich schwere Arbeit und Last der Verantwortung und Distinguiertheit, kein PR-Heini der Welt hätte sie besser beraten können.
Manni lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme. Versucht Millstätt die Krieger in Richtung Teamleitung zu pushen? Das wäre nicht wahnsinnig überraschend, schlieÃlich hat er sie schon oft protegiert. Dass er das aber tut, ohne ein Wörtchen darüber zu verlieren, und dass auch Judith sich darüber ausschweigt, obwohl es seit Etablierung der Soko S-Bahn durchaus Gelegenheiten gegeben hätte, Manni über ihren bevorstehenden Karrieresprung zu informieren, steht auf einem anderen Blatt. Und dann heiÃt es in diesen blödsinnigen Kommuniqués, die die Chefetage in schöner RegelmäÃigkeit auf ihre ohnehin schon zugemüllten Schreibtische absondert, dass effiziente und transparente interne Kommunikation das Allerwichtigste überhaupt sei, die Krönung erfolgreicher Polizeiarbeit, unentbehrlich für den
Workflow.
»Entschuldigen Sie, Sie arbeiten doch mit Hauptkommissarin Krieger zusammen, oder?« Ein Presseheini sackt auf den Stuhl neben Manni und drückt ihm seine Visitenkarte in die Hand. »Gero Sanders, Journalist«, steht darauf. Manni betrachtet den Besitzer der Karte. Ein Mann um die vierzig, sportlich lässig, mit einem Blick, der genau jene Hartnäckigkeit ausstrahlt, die fast allen Vertretern seines Berufsstandes zu eigen ist, wenn sie sich an etwas festgebissen haben. Manni hält Sanders die Visitenkarte wieder hin.
»Judith Krieger sitzt da vorn, wenn Sie Fragen an sie haben.«
»Weià ich.« Der Journalist ignoriert die Karte und lacht. Er hat eine dieser extrem tiefen Stimmen, die selbst dem gröÃten Schwachkopf noch eine gewisse Autorität verleihen. Frauen mögen so was angeblich. Aber Manni hat nicht vor, sich davon beeindrucken zu lassen.
»Ich schreibe eine Reportage über Polizeiarbeit«, erklärt der Journalist, als Manni seine Aufmerksamkeit wieder in Richtung Podium lenkt, wo der Pressesprecher den Zeigefingernagel gegen das Mikrofon schnippt. Der Sound überträgt sich nicht in den Konferenzraum, hektisches Gerenne und Gefummele sind die Folge. Jedes Mal dasselbe Theater, warum kriegt man das nicht endlich einmal in den Griff.
»Eine attraktive Frau bei der Mordkommission, das ist mein Ansatz, gar nicht so sehr der aktuelle Fall. Und da Sie mit Judith Krieger zusammenarbeiten, würde ich gern auch Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Attraktiv? Judith Krieger als Medienstar? Ist das ein Trick von Axel Millstätt? Manni starrt Sanders an, der dies als Aufforderung versteht, weiter auf ihn einzulabern.
»Im Jahr 2005 gab es im deutschen Fernsehen 125 leitende Mordermittlerinnen, aber bei der
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