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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Innenhöfe pferchten und ein paar der einst heiligen Räume als Kornspeicher verwendeten.
    Ekaterinas Eltern lebten in einem der Holzhäuser, die sich in der Nähe des Hafens aneinanderdrängten und mit jedem Sturm ein bisschen schiefer wurden. Die Eltern redeten wenig und lachten noch seltener. Sie fielen nicht weiter auf damit. Die Kinder auf der Insel kränkelten oft. Die Erwachsenen hatten Furchen neben den Mündern und auf der Stirn, und ihre Augen suchten immer wieder das Meer, als ob sie vor etwas fliehen wollten. Das Kloster, in dessen Schatten sie lebten, schienen sie oftmals gar nicht zu sehen. Die Männer stanken nach Schnaps,vor allem dann, wenn ein neuer Monat begann. Eine gläserne Glocke schien über der Insel zu liegen, die alle Fröhlichkeit erstickte.
    Ekaterina hatte einen Lieblingsplatz, abseits von Dorf und Hafen, am Ufer der See. Der Sand war sehr weiß und glitzerte. Auch die Stämme der Birken, die die Bucht umstanden, blitzten hell, wenn die Sonne zwischen den Wolken hervorbrach. Jede der Birken besaß statt eines einzigen eine Vielzahl von Stämmen, die sich in bizarren Windungen umeinander krümmten und weit verästelten. Man konnte ganz schwindelig werden von diesen Birken. Sie tanzen, sagte Ekaterinas Mutter, die Bäume tanzen einen Reigen mit dem Wind. Ekaterina wagte es nicht, ihr zu widersprechen, doch insgeheim war sie davon überzeugt, dass die Birken gar keine Bäume waren, sondern Geisterwesen.
    Sie liebte die Birken, doch zugleich machten sie ihr Angst, weil sie von Leid und Tod flüsterten, Geschichten, die Ekaterina zwar hören, aber nicht verstehen konnte. An manchen Tagen war es so schlimm, dass sie die Hände auf die Ohren presste und schrie, wenn sie mit ihren Eltern durch den Wald gehen musste. Es summt, es summt, schrie sie, erleichtert, auf diese Weise nur noch ihre eigene Stimme zu hören. Aber die Erwachsenen hatten kein Verständnis für sie, und wenn Ekaterina nicht still war, riss ihr der Vater die Hände von den Ohren, hielt sie in seinen rauen Pranken, zwang Ekaterina zu hören, was sie nicht ertrug. Die Blätter rascheln und die Mücken surren, knurrte er, das ist alles, stell dich nicht so an. Doch die Birken raunten immer weiter und erzählten von der Traurigkeit, die über dieser Insel lag und die Gesichter der Erwachsenen zerfurchte, auch wenn die die Birken nicht hörten.
    Â»Doktor Petrowa? Sind Sie da drin?«
    Die Stimme der Institutssekretärin katapultiert Ekaterina zurück in die Gegenwart. Erschrocken starrt sie sich ins Gesicht. Ihr ist kalt geworden, nur in BH und Slip steht sie vor dem Spiegel. Wie lange musste Karl-Heinz Müller schon aufsie warten, weil sie sich in unnützen Tagträumereien verloren hat?
    Â»Ich komme!«, ruft sie.
    Hastig fährt sie in die Obduktionskleidung und die Gummigaloschen, überprüft ihre Frisur mit der Hand, während sie in den Keller eilt. Sie hat in der vergangenen Nacht noch lange überlegt, wie sie Karl-Heinz Müller von der Veränderung der Stichwunden in Kenntnis setzen soll. Schließlich hat sie sich für einen sehr sachlichen, sorgfältig bebilderten Bericht entschieden, den sie wortlos zwischen die Tagespost des Oberarztes schmuggelte. So konnte er ihre Ergänzung des offiziellen Obduktionsberichts in Ruhe lesen und überlegen, welche Schlüsse er daraus ziehen wollte, ohne sich durch Ekaterinas Anwesenheit zu einer überstürzten Reaktion genötigt zu sehen. Sie ist unsicher gewesen, wie er auf ihr eigenmächtiges Handeln reagieren würde. Und auch jetzt weiß sie noch nicht, ob er sich von ihr hintergangen und bloßgestellt fühlt, wie ihr Chef in Frankfurt das in einer vergleichbaren Situation getan hatte, oder ob er ihre Arbeit als seinen eigenen Erfolg ausgeben wird. Die Versuchung, ihren Bericht einfach für sich zu behalten, war groß gewesen, doch das hätte gegen Ekaterinas Berufsethos verstoßen. Und Karl-Heinz Müllers erste Reaktion schien ihr recht zu geben. Mit keinem Wort hat er sie beschimpft, im Gegenteil. Da müssen wir der Staatsanwaltschaft wohl eine Ergänzung schicken, war das Einzige, was er sagte, und dann hat er augenblicklich zu einem Ortstermin im Sektionssaal gebeten.
    Ekaterinas Herz schlägt bis zum Hals, als sie die Glastür zur Seite gleiten lässt. Ihr Vorgesetzter scheint es wirklich ernst zu meinen, denn neben ihm stehen die

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