Nacht ohne Schatten
stellt sie in das Wandregal, in dem auch die Tonschale mit Nadas Ersatzschlüsseln steht. Zwei Sicherheitsschlüssel, um das teure Equipment zu schützen, das Nada nach und nach angeschafft hat: Kameras, Computer, Beamer, Scheinwerfer und die Stereoanlage.
Sorry, ich habâs total eilig, hatte Nada gerufen, als sie Thea die Schlüssel das letzte Mal zurückbrachte, erst letzte Woche war das gewesen, ein paar Tage bevor sie wieder einmal abgetaucht ist. Sie musste an diesem Tag irgendetwas mit Ãlfarben gearbeitet haben, nicht nur ihre Hände, auch die Schlüssel trugen deutliche Spuren davon. Nicht mein Problem, wenn sich die Farbe in den Rillen der Schlüssel verhärtet, hatte Thea gedacht und sich dafür verachtet, dass sie Nada beneidete: um ihre Leichtigkeit, ihren Erfolg, ihre Liebhaber und ihre Jugend. Es ist nicht so, dass Thea wehleidig ist. Sie hat schon vor Jahren erkannt, dass der Erfolg, den sie womöglich trotz ihres lahmen Beins hätte haben können, mehr von ihr forderte, als sie zu geben bereit war. Sie taugt nun einmal nur bedingt zur öffentlichen Person. Doch seit ihre Galerie ihr kündigte und kurze Zeit später Nada umwarb â zu Recht, wie Thea anerkennen musste â, fällt es ihr schwer, den Groll zu unterdrücken.
Sie will die Schlüssel zurücklegen, nicht weiter mit ihrer Ateliernachbarin hadern, doch etwas lässt sie stutzen. Die Schlüssel sind blank, wie neu, dabei weià Thea genau, dass Nada sie nicht noch einmal geholt hat und dass sie selbst sie ganz sicher nicht gereinigt hat. Wer dann? Und vor allem: wann? Die Party, denkt Thea, vielleicht hat sie da jemand genommen. Aber um genau dies zu verhindern, hat sie die Tonschale im Schrank versteckt und erst am nächsten Morgen wieder auf ihren gewohnten Platz gestellt. Waren die Schlüssel darin da sauber oder mit Farbe verschmiert? Sie kann sich nicht daran erinnern, hat nicht darauf geachtet.
Langsam dreht Thea sich herum. Niemand auÃer ihr und Nada weià von den Schlüsseln und ihrem Platz in der Tonschale. Selbst Nada kann sie nicht heimlich genommen haben, denn sie hat keinen Schlüssel zu Theas Atelier. Sie nicht und auch niemand sonst, und Thea hat immer darauf geachtet, dass ihre Tür während ihrer Abwesenheit abgeschlossen ist. Oder etwa nicht? Wie eine Filmsequenz ist plötzlich die Erinnerung an den Tag nach dem Mord wieder da. Wie sie erst nachmittags in ihr Atelier kam, viel zu spät, wegen des Klempners. Wie verärgert sie deswegen war, wie unkonzentriert. Wie sie ihr Bein verfluchte und deshalb, als sie endlich in ihrem Atelier stand, nicht mehr zu sagen wusste, ob ihre Tür auch wirklich abgeschlossen gewesen war. Jemand war hier, hat sie gedacht und einen Moment lang eine fremde Präsenz zu spüren geglaubt. Doch nichts in ihrem Atelier war verändert worden.
Thea fühlt ihren Herzschlag bis in den Hals. Auf einmal ist sie von einer Unruhe gepackt, die sie sich nicht erklären kann. Sie umklammert die Schlüssel, tastet sich an der Wand entlang, zur Tür, auf den Flur, bis zu Nadas Atelier. Sie weià nicht, was sie dort drinnen zu finden erwartet, weià nur, dass es möglicherweise gefährlich ist.
Nadas Gesicht blickt Thea von den Wänden entgegen, einmal, zweimal, viele Male. Verfremdete, bunt schimmernde Fotos von Nadas Installationen, schön und erhaben, überlebensgroÃ. Doch was augenblicklich Theas Aufmerksamkeit fesselt, ist das Stativ, das direkt vor der Fensterfront steht, denn die Kamera darauf ist auf die Gleise gerichtet. Was hat das zu bedeuten, was hat Nada beobachtet, oder ist sie noch auf ganz andere Weise in diesen Mord an der S-Bahn-Haltestelle verwickelt? Thea hinkt durch das Atelier, späht durch den Sucher, fühlt, wie ihr Herzschlag noch härter wird. Durch das Teleobjektiv erscheint die Stelle, wo der S-Bahn-Fahrer der Kommissarin zufolge erstochen wurde, zum Greifen nah.
* * *
Judith fühlt die Blicke der Kollegen in ihrem Rücken, als sie aus dem Konferenzraum hastet. Makowskis. Karins. Mannis. Millstätts natürlich. Sie dreht sich nicht um, wirft in ihrem Arbeitszimmer die Akten auf den Schreibtisch und stopft Tabakpäckchen, Handy und Notizblock in die Taschen ihres Ledermantels. Der Zettel mit der Frauen-für-Frauen-Adresse, die Ralf Meuser ihr vorgestern gab, steckt noch in ihrer Hosentasche, sie vergewissert sich, dass es so ist, während sie
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