Nacht ohne Schatten
den Schrei zu unterdrücken, der ihr entfährt. Wie von weit her hört sie das Klirren, mit dem der MeiÃel auf dem Boden aufschlägt. Sie hat ihn fallen lassen, ohne das auch nur zu merken.
Ein Schritt, noch ein Schritt, sie muss raus hier, raus. Wie durch Gelatine bewegt sie sich, vorsichtiger jetzt, schwer auf ihren Gehstock gestützt, ihren Fluch, ihren Herrn. Sie hatte einen Traum, sie hat geglaubt, sie könnte es schaffen. Aber es hat nicht geklappt und wird auch nicht klappen, weil sie keine originären Ideen hat, keinen Stil, weil sie alt ist und müde und unattraktiv. An der Tür der Werkstatt hält sie inne, betrachtet die Kunstfabrik, die auf der gegenüberliegenden Seite des Hinterhofs den Blick auf den bleigrauen Morgenhimmel versperrt. So viele Hoffnungen keimen darin, so viele Talente. Du bist nur eine Künstlerin von vielen, Thea, allenfalls unteres MittelmaÃ, sieh dich in den Galerien und Museen um, wach endlich auf.
Wie ist sie über den Hof und die Treppe hinaufgekommen? Wie lange hat sie dafür gebraucht? Sie kann es nicht sagen, als sie endlich in ihrem Atelier auf das durchgesessene Sofa fällt und die Augen schlieÃt, sie fühlt nichts als das Brennen in ihrem Knie, bis die Kälte des ungeheizten Fabrikraums in ihren Körper kriecht und sie dumpf wird, gefühllos, in sich selbst verkapselt, wie Stein.
Sie darf sich nicht erkälten, weil sie dann auch noch Geld für Medikamente aufbringen muss und nicht einmal mehr fürs Callcenter taugt. Die reine Vernunft treibt sie wieder hoch. Vor ihr, auf dem Werktisch, liegen die Flügelmodelle. Die Treibholzsparren, die sie schon für die echte Skulptur ausgewählt hatte, stapeln sich auf dem Boden davor. Thea heizt den Ãlofen an, setzt den Emaillekessel darauf und hängt ihre beiden letzten Teebeutel in die verbeulte Thermoskanne. Teebeutel vom Billigdiscounter, weil sie sich auch mit 51 Jahren den Einkauf in Einzelhandelsgeschäften und besseren Supermärkten nicht leisten kann.
Sie trinkt von dem Tee, sie zwingt sich dazu, bis die Taubheitin ihrem Körper nachzulassen beginnt. Fahles Winterlicht fällt durch die hohen Fenster, genug Licht, damit Axt, Säge und Hammer ihren Weg finden können. Thea nimmt die Axt, hebt sie hoch, lässt sie auf den ersten Gipsentwurf niedersausen, dann auf den zweiten, dann auf das Treibholz, das sie so mühsam am Rhein gesammelt hat. Sie fühlt keinen Schmerz dabei, spürt nur die Kraft in ihren Armen und Händen, Schlag für Schlag. Erst als nur noch Brennholz, Metallschrott und Gipsbrocken übrig sind, legt sie die Werkzeuge beiseite, sorgfältig nun, weil es ein Abschied ist. Sie wird Atelier und Werkstatt räumen, das Inventar verkaufen. Wenn sie die Miete nicht mehr aufbringen muss, wird das Minus auf ihrem Konto langsamer wachsen. Trotzdem wird sie noch ins Callcenter müssen, Tage wie Blei, viel mehr, als sie erträgt.
Thea schlurft zum Fenster und blickt auf die S-Bahn-Strecke, wo vor ein paar Tagen ein Mensch gestorben ist. Ihr Gesicht ist nass von SchweiÃ, vielleicht auch von Tränen. An ihrem rechten Daumen bemerkt sie eine blutige Blase. Sie könnte sich umbringen, dort auf diesen Gleisen, das wäre ein Weg.
Du darfst nicht aufgeben, hat sie Nada immer wieder gesagt, damals, als sie ihre Ateliernachbarin noch protegierte und die sich bemühte, mit Performances vor dem Wallraf-Richartz-Museum ihr BAföG aufzubessern. Ein Underdog aus einem Elternhaus, das sie für ihre Liebe zur Kunst verlachte, eine halsstarrige Quereinsteigerin, wie Thea selbst es einmal gewesen war. Du darfst nicht aufgeben, du musst an dich glauben, auch wenn das niemand anderes tut. Es beflügelte Thea, Nada zu unterstützen, belebte auch ihre eigene Arbeit. Wie ein jüngeres Ich kam die andere ihr vor. Nicht nur in ihrer unbedingten Hingabe an die Kunst und der anarchischen Art, wie sie Materialien, Ideen und Stilrichtungen vermengte, sondern auch darin, wie sie jegliche Konvention ignorierte, sich nahm, was sie wollte, egal, ob das andere enttäuschte. Und Nadas Erfolge wurden nicht durch einen Unfall ausgebremst. Stattdessen lernte Nada, sich zu inszenieren, bis sie ein Star war,eine Göttin der Kunst, die es sich leisten kann, unerreichbar zu sein, weil ihr Marktwert dadurch nur noch weiter steigt.
Langsam, immer noch ohne ihren Stock zu benutzen, hinkt Thea zur Spüle, wäscht ihre Teetasse aus und
Weitere Kostenlose Bücher