Nacht ohne Schatten
über den Flur zu den Aufzügen hastet. Sie versucht, nicht an das zu denken, was sie in den Augen der Kollegen zu lesen glaubte. Mitleid. Neugier. Schadenfreude. Was auch immer, es ist egal.
Unten im Fuhrpark lässt sie sich einen Wagen zuteilen, lenkt ihn an den tristen Fassaden des Stadtteils Kalk vorbei auf den Zubringer zur Zoobrücke, dann über den Ebertplatz zu Saturn. Sie geht zur Infotheke, blättert in ihrem Notizblock, bis sie den Namen der Sängerin findet, den sie sich in der Wohnung der Künstlerin Nada notiert hat. My Brightest Diamond, die CD ist vorrätig. Judith kauft sie und aus einem Impuls heraus auch noch die CD einer Sängerin namens KT Tunstall, die an einem Extrastand präsentiert wird und ein bisschen so klingt wie die alte Rockmusik, die Judith so lange geliebt hat, und doch ganz anders, neu auf eine Art, die sie noch nicht näher erklären kann.
Als sie wieder im Auto sitzt, lässt sie das Fenster herunter und zündet eine Zigarette an. In den Dienstwagen herrscht Rauchverbot, und normalerweise hält sie sich daran. Jetzt interessiert sie das nicht. Sie regelt den Polizeifunk herunter, schiebt die Brightest-Diamond-CD in den Schlitz. Im ersten Augenblick, als Millstätt sie vor versammelter Mannschaft auflaufen lieÃ, ist sie gekränkt gewesen, verletzt, gedemütigt. Im ersten Moment hat sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie sich von Makowski provozieren lieÃ. Danach kam die Wut und mit ihr Befreiung. Sie hat sich in den letzten Monaten verbogen, sich verzweifelt bemüht, den vermeintlichen Makel ihres Zusammenbruchs und die Auszeit vom KK 11 durch Arbeit undnoch mehr Arbeit wettzumachen. Wie eine Wahnsinnige hat sie um ihre Rehabilitation und Millstätts Anerkennung gerungen. Der Wunsch zu gefallen. Der alte weibliche Irrglaube, dass Leistung Erfolg garantiert. Sie hat die von ihrem Chef allenfalls vage in Aussicht gestellte Beförderung zur stellvertretenden Teamleiterin zum Zentrum ihrer Welt gemacht und Millstätt zu deren Sonnengott. Jetzt kann sie auf einmal sehen, wie lächerlich sie sich dadurch gemacht hat, wie klein.
Die CD, die der Künstlerin Nada so gut gefällt, ist mehr als Musik, eher eine Gewalt, die aus den Lautsprecherboxen ins Auto strömt, verführerisch, melodisch, poetisch, melancholisch und so nah, als sei die Sängerin physisch präsent. Judith lässt sich von den fremden Klängen einhüllen. Wenn Nadas Kunst auch nur annähernd so berührt, muss sie tatsächlich so erfolgreich sein, wie ihre Ateliernachbarn behaupten. Ist wirklich dieser Erfolg der Grund, dass sie noch immer nicht zurückgerufen hat, der eitle Rückzug einer Diva? Und warum beschäftigt sich Judith überhaupt mit ihr? Warum glaubt sie nicht, dass sie im Rotlichtmilieu ermitteln müssen? Es ist doch völlig eindeutig, dass die junge Frau aus der Pizzeria zur Prostitution gezwungen wurde.
Sie startet den Wagen, lenkt ihn auf den Hansaring, dann am Mediapark vorbei Richtung Ehrenfeld. Später wird der Schmerz kommen, die Kehrseite der Wut, das weià sie aus Erfahrung. Später wird sie die Enttäuschung fühlen, sich eingestehen müssen, dass sie sich vom KK 11 etwas erhofft hatte, was sie nicht bekommen wird. Jetzt aber ist alles leichter, klarer, jetzt ist sie so frei wie lange nicht mehr. Und aus irgendeinem Grund scheinen diese zwei so widersprüchlichen Gefühle â die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem wie auch die grenzenlose Erleichterung â exakt von der englischen Sängerin wiedergegeben zu werden, die jetzt einen Baum besingt, in dessen Geäst glitzernde Schätze im Wind tanzen, Faustpfänder einer Liebe, die vergangen ist, was auch sonst.
Judith schnippt die Zigarette aus dem Fenster, zündet sichsofort eine neue an. Sie denkt an Manni und den selbstgefälligen Diddl Makowski, dessen Kahlkopf nicht die geringste Ãhnlichkeit mit der Merchandising-Plüschmaus aufweist, deren Namen er trägt. Sie stellt sich vor, wie die beiden Kollegen in den Bordells herumstapfen und die Verzweiflung hinter dem glitzernden Lächeln der Frauen nicht sehen â vielleicht auch einfach nicht sehen können. Sie vergegenwärtigt sich all die Fragen, die gestellt werden müssen, und weiÃ, dass sie nicht mehr anders kann, als diese Fragen zu stellen, weil das ein Teil ihrer Persönlichkeit ist, ihr Verständnis von Lebenssinn, ganz egal, ob
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