Nacht über Algier
fürchterliche Szene gemacht und geschworen, daß er für nichts mehr garantieren könnte, wenn ich mich weiterhin in seine Angelegenheiten einmischen würde. Ich war schockiert über die Art und Weise, wie er sich aufspielte.
Lino driftet ab, keine Leine scheint ihn mehr halten zu können. Neuerdings traktiert er alle Luxusschlitten, die ihm in die Quere kommen, mit Fußtritten. Wenn der Fahrer protestiert, stürzt sich Lino auf ihn, wild entschlossen, ihn in Stücke zu reißen. Es ist klar, daß das ein böses Ende nehmen wird. Aber wie läßt sich das Schlimmste verhindern?
Serdj klingelt mich aus dem Bett, um mir zu verkünden, daß der Lieutenant in einem weiteren Nobelschuppen ganz gewaltigen Mist angestellt hat. Als ich dort eintreffe, muß ich Verstärkung anfordern, um durchgreifen zu können. Unter den Opfern von Linos Ausraster befinden sich Sprößlinge der oberen Zehntausend und Minister-Callgirls. Ich muß sie fast auf Knien beschwören, nicht Anzeige zu erstatten und nicht ihre Beschützer anzurufen.
Ich fahre mit Lino zur Küstenstraße, damit er an der frischen Luft wieder zu sich kommt. Er ist sternhagelvoll. Während ich ihm die Leviten lese, lacht er sich schief, zeigt mir einen Vogel und nennt mich einen pathetischen Hinterwäldler, einen Arschkriecher und armen Irren. Mein Kollege ist so übel dran, daß man meinen könnte, er sei reif für die Klapsmühle. Ich kann es nicht ertragen, ihn in diesem Zustand zu sehen, wie er sich über das Geländer hängt und seine Galle auskotzt und dabei unter wildem Lachen die ganze Stadt verflucht. Ich ertappe mich dabei, daß ich ebenfalls wütend bin auf all diese Haj Thobanes, auf ihre Flittchen und auf diese soziale Kluft, der zufolge bei uns kein Pechvogel das vermeintliche Glück auch nur mit den Fingerspitzen berühren darf, ohne vom Schlag getroffen zu werden.
Lino ist völlig außer Atem. Ich setze ihn auf eine Bank gegenüber dem Hafen, damit er sich beruhigt. Er legt den Kopf in den Nacken und entdeckt Millionen Sterne am Himmel. Vielleicht sucht er seinen. Er läßt das Kinn auf die Brust sinken. Seine Schultern zucken einmal, zweimal, dann schüttelt ihn ein Schluchzen, das mir das Herz zerreißt. Ich lasse ihn sich in Ruhe ausheulen, er hat es bitter nötig. Nachdem er ein paar Minuten geflennt hat, putzt er sich die Nase am Ärmel und packt das Übel unvermittelt an der Wurzel.
»Sie hat mich benutzt ... Verstehst du, sie hat mich wie einen Sack Lumpen hinter sich hergeschleift, überall dorthin, wo man sich nach ihr umdreht. Sie war nur darauf aus, ihren Kerl eifersüchtig zu machen. Und ich Idiot bin auf ihre Masche reingefallen.« Er sieht mich mit geröteten Augen an. »Wie kann man jemanden nur so mies behandeln, Brahim?«
»Das mußt du am besten wissen.«
»Ich hab mich verarschen lassen wie der letzte Depp, stimmt's?«
»Jeder an deiner Stelle wäre genauso reingefallen.«
Er schüttelt den Kopf, zieht die Nase hoch, dreht sich zu den Hafenlichtern um. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich sie geliebt habe, Brahim, ich war bereit, mein Leben für sie zu opfern.«
»Das wäre keine gute Idee gewesen, Lino. Das Opfer besteht nicht darin, für jemanden oder für eine Sache zu sterben, ich würde sogar sagen, das ist zweifellos das Allerunvernünftigste, was man machen kann. Das wirkliche Opfer besteht darin, das Leben trotzdem zu lieben.«
Lino ist nicht dieser Ansicht. Er fährt sich erneut mit der Hand über die Nase.
»Sie haben uns nichts gelassen, diese reichen Arschlöcher, nichts, weder die Krümel vom Kuchen noch die Illusionen. Sie haben uns unsere Geschichte gestohlen, unsere Chancen, unsere Ambitionen, unsere Träume und selbst unsere Unbefangenheit. Wir haben nicht einmal mehr das Recht, mit Würde zu scheitern, Brahim. Sie haben uns alles genommen, sogar unser Elend.«
»Das stimmt nicht, Lino. Das Leben ist nun mal so, es gibt Reiche, und es gibt Arme, und beide sind aufeinander angewiesen.«
»Unser Unglück kommt von diesen reichen Schweinehunden.«
Ich setze mich neben ihn auf die Bank. Er stößt mich nicht weg, rückt aber auch nicht zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich sehe, wie erschöpft er ist. Sein Kummer und sein Zorn liefern sich eine gigantische Schlacht, aber er scheint dem aus der Ferne etwas unschlüssig zuzusehen.
Eine wohltuende Ruhe bringt uns einander näher. Wir beobachten ein Schiff, das Lichtsignale aussendet. Das Meer ist schwarz wie der Trübsinn.
»Ich hasse diese reichen
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