Nacht über Algier
eingeteilt war, hab ich mich mit meinem Kollegen geeinigt und bin zu Nedjma gerannt.«
»Man hat deine Dienstwaffe bei ihm gefunden, dieselbe, die beim Attentat auf Thobane benutzt und mit der sein Fahrer erschossen wurde. Du mußt dich unbedingt daran erinnern, unter welchen Umständen du sie verloren hast.«
Seine Finger tasten sich an meinem Arm entlang, um sich irgendwo festzuhalten. Er will sich Zeit nehmen, aber das kann ich nicht zulassen.
»Sie werden mir nicht noch einmal die Genehmigung geben, dich zu besuchen, Lino. Wir werden also keine Gelegenheit haben, in aller Ruhe darüber nachzudenken, was an jenem Abend mit dir geschehen ist. Du mußt deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Jetzt oder nie.«
Lino schüttelt den Kopf. Dabei platzt eine Wunde an seiner Schläfe auf, und ein blutiger Faden läuft über seine Wange.
»Ich denke ununterbrochen an diesen Tag, Brahim. Seitdem sie mich eingelocht haben, mach ich nichts anderes. Ich weiß, daß schon ein kleines Fünkchen Licht in die Angelegenheit bringen würde.« Er schüttelt verzweifelt das Kinn. »Es tut mir leid, aber da ist nur ein schwarzes Loch.«
Der Rambo kreuzt wieder auf, ostentativ auf das Zifferblatt seiner Uhr blickend. Ich stehe auf. Lino begreift, daß die Besuchszeit beendet ist. Er umklammert meinen Arm. Was ich in seinem Blick lese, durchbohrt mich wie ein Dolchstoß. Sein rissiger Mund zittert, versucht mir irgendwas zu sagen, aber da er merkt, wie bestürzt ich bin, besinnt er sich anders und verkriecht sich, die Augen auf den Boden gerichtet, in seine Ecke.
15
»Ich denke, daß er unter Drogen stand«, sagt Serdj und zieht an seinem Zigarettenstummel. »Und außerdem, wie sollte er sich denn an irgend etwas erinnern, nach dem, was er durchgemacht hat? Er war schwer angeschlagen, als er seinen Folterern ausgeliefert wurde. Ich bin mir sicher, daß man ihm nicht mal Zeit gelassen hat zu begreifen, was passiert ist. Mit all den Schlägen, die er auf den Kopf bekommen hat, und den erlittenen Demütigungen ist es kein Wunder, daß er sich nicht mal mehr an seinen Namen erinnert.«
Ich betrachte meine Tasse, ohne etwas zu sagen.
Wir sitzen auf der Terrasse eines Cafes in Beicourt, weit weg von Kollegen und Angehörigen, und ziehen bei einem plörrigen Kaffee wieder und wieder eine hypothetische Bilanz aus unseren Nachforschungen.
Serdj drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus. Er ist erschöpft.
Seit sechs Tagen laufen wir, jeder für sich, einem von der Vorsehung geschickten Zeugen hinterher, der unseren Ermittlungen einen Schimmer Hoffnung geben könnte - Fehlanzeige. Serdj hat an die hundert Spielhöllen abgeklappert, immer mit dem Foto von Lino in der Hand, aber nicht ein Barkeeper, nicht ein Betrunkener, nicht eine Prostituierte will ihn wiedererkannt haben. Ich für meinen Teil bin an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, um die Chronologie der Ereignisse zu rekonstruieren. Zwei Nachbarn von Haj Thobane, eine alte Dame und ein junger Schnulzensänger, haben bezeugt, daß sie einen Typen mit Walkie-Talkie am Tatort gesehen haben, was den Schluß nahelegt, daß der Heckenschütze mindestens einen Komplizen hatte. Weit davon entfernt, dadurch neuen Auftrieb zu bekommen, läßt mir diese Vermutung dennoch keine Ruhe. Bisher sind mir meine Zuneigung zu Lino und die Angst, ihn aus dem Schlamassel, in den er sich selbst hineingeritten hat, nicht wieder herausholen zu können, keine große Hilfe gewesen. Meine Gefühle waren stärker als meine Unparteilichkeit und haben alle meine Klärungsansätze beeinflußt. Doch ich bin Polizist, und ein Polizist gehorcht der Logik: Wenn Lino nun doch in diese verdammte Geschichte verwickelt wäre? Wenn er sich tatsächlich von seinem Haß und seiner Eifersucht hätte hinreißen lassen? Schließlich, warum auch nicht? Er kooperiert nicht, er verschanzt sich im Gegenteil hinter einem zweifelhaften Gedächtnisausfall; er wußte von der Existenz des Namenlosen; seine Waffe ist das wichtigste Beweisstück; er hat ein Tatmotiv und kein Alibi ... Es ist traurig, zu einer solchen Annahme zu gelangen, aber aus professioneller Sicht wird das Puzzle dadurch weniger chaotisch. Das einzige, was mir dennoch nicht einleuchtet, ist diese Inszenierung auf dem Parkplatz des »Marhaba«. Warum haben sie den Namenlosen liquidiert? Sie hätten ihm leicht Handschellen anlegen können.
Ich bin noch zweimal bei Professor Allouche gewesen. Ich mußte unbedingt mehr über den Namenlosen erfahren.
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