Nacht über Algier
Millimeter weitergekommen«, sage ich.
»Wir haben das Wild zumindest aufgescheucht«, entgegnet sie.
»Ich bewundere Ihren Optimismus, aber ich sehe keinen Hasen Reißaus nehmen.«
»Ich schon. Immerhin wissen wir jetzt, daß die Talbis einer Menge Leute ein Dorn im Auge sind.«
Am Abend wird mir gemeldet, daß mich jemand an der Rezeption erwarte. Ich bitte Soria, sich in ihrem Zimmer still zu verhalten, und eile die Treppen hinunter.
Der Besucher in der Hotelhalle, ein gutaussehender Fünfziger von gepflegtem Äußeren mit in die Stirn fallendem graumeliertem Haar, ist offensichtlich äußerst verstört. Trotz der zackigen Augenbrauen wirkt sein Blick sanft und offen.
Er steht mit einem Ruck auf, als er sieht, daß der Empfangschef mich zu ihm schickt.
»Ich bin Rabah Ali«, stellt er sich mit erstickter Stimme vor. »Meine Söhne haben mir gesagt, daß Sie mich suchen. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
Die Art und Weise, wie er an meinen Lippen hängt, verrät die große Angst, die an ihm nagt, seit seine Kinder ihm von meinem Besuch erzählt haben. Ich wette, daß er sich gleich nach seiner Rückkehr direkt ins Hotel aufgemacht hat, um sich Klarheit zu verschaffen. Er scheint mir wie ein gehetztes Tier ständig auf der Hut, ein Manisch-Depressiver, wie sie bei uns scharenweise herumlaufen.
Seine feuchten, zitternden Finger liegen unruhig in meiner Hand.
»Kein Grund zur Sorge«, beruhige ich ihn, »wir sind nicht von der Justiz und auch nicht von der Steuer. Meine Kollegin und ich sammeln Zeugenaussagen von ehemaligen Mudjaheddin für eine historische Dokumentation.«
Er entspannt sich. Im Handumdrehen rutscht sein Adamsapfel an die richtige Stelle zurück, und sein Gesicht hellt sich wieder auf.
»Was kann ich für Sie tun, Monsieur Llob?«
»Was in Ihrer Macht steht.«
Mit einer immer noch etwas zittrigen Hand holt er ein Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn ab.
»Das ist sehr vage.«
Ich bitte ihn, auf dem ramponierten Sofa des Hauses Platz zu nehmen.
»Es wird nicht lange dauern, Monsieur Ali.«
»Dann fangen Sie an.«
»Es geht um das, was sich hier zwischen Juli und August '62 abgespielt hat.«
Er überlegt einen Moment, dabei knabbert er an seinen Nägeln. Das Interesse, das ich für diese Zeit bekunde, beunruhigt ihn nicht sonderlich. Trotzdem sieht er mich abwehrend an.
»Ich fürchte, daß ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann, Monsieur .«
»Llob«, wiederhole ich, »Brahim Llob.«
»Ich verheimliche Ihnen nicht, daß mir dieses Thema unangenehm ist. Auch wenn ich persönlich nicht groß was auf dem Gewissen habe. Ich habe den Krieg von Anfang bis Ende mitgemacht, aber ich war nicht an Ausschreitungen beteiligt. Ich habe schreckliche Sachen mit angesehen, aber ich lege keinen Wert darauf, an alte Wunden zu rühren, Monsieur Llob. Bei den Leuten hier hat das alles unauslöschliche Spuren hinterlassen. Und heute kann der Nachhall dieser dramatischen Ereignisse einen gewissen Groll wecken, dann fließt manchmal auch wieder Blut. Man sagt mir nach, daß ich ein Mensch ohne Leichen im Keller bin. In Wirklichkeit fühle ich mich nicht in der Lage, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Vielleicht ist das Feigheit, ich nenne es Takt. Es gibt eben Haltungen, mit denen die Betreffenden gut leben können, auch wenn andere darüber schockiert sind.«
Er steht auf. »Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Monsieur Llob.«
»Ich respektiere Ihre Entscheidung. Aber wir stecken in der Klemme. Wir haben nicht die Absicht, die Toten wieder auszugraben oder alte Wunden aufzureißen. Unsere Arbeit ist von großer Bedeutung, das müssen Sie mir glauben.«
»Daran zweifle ich nicht.«
Er streckt mir die Hand entgegen, um sich zu verabschieden. Ich ergreife sie und halte sie fest. Rabah Ali versucht sie zurückzuziehen, aber ich lasse sie nicht los.
»Können Sie uns wenigstens Personen nennen, die unsere Untersuchungen voranbringen würden?«
Er versucht sich aus der Umklammerung zu befreien, aber ich gebe nicht nach.
»Es gibt eine Menge Überlebender, die nur darauf warten, endlich ihre Show abziehen zu dürfen. Aber wie viele von denen sind schon glaubwürdig? Augenzeugenberichte über den Baroud [ (arab.) Schießpulver; im übertragenen Sinne Kampf] und die Ehre - da brauchen Sie nur aufs Knöpfchen zu drücken, und schon kriegen Sie einen Haufen Schwachsinn zu hören. Unser Unglück rührt daher, daß wir auch noch stolz darauf sind. Und das ist der Grund, weshalb ich
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