Nacht über Algier
Armee festgenommen, zusammengeschlagen, auf einen Müllabladeplatz gebracht und dort mit einem Genickschuß getötet. Er wird offiziell für tot erklärt, und seine Brüder tragen ihn in die Liste der Märtyrer ein. Fünfzehn Jahre später erzählt der Wiederauferstandene Millionen verblüffter Fernsehzuschauer leibhaftig seine außergewöhnliche Geschichte. An einem einzigen Abend wurde er zum verehrten Helden . Wenn Sie einen solchen Dokumentarfilm planen, mach ich mit, und zwar sofort, aber nicht für ein Buch.«
»Das hängt davon ab, was Sie zu sagen haben.«
Er plustert sich auf wie ein Hahn und beschreibt mit seinem Arm einen großen Bogen.
»Im Umkreis von Hunderten von Kilometern werden Sie keinen Besseren finden als mich. Ich war der engste Mitarbeiter vom Linkshänder, dem Kommandanten. Ja, ohne Quatsch, der Linkshänder, eine lebende Legende, ein wahres Heldenepos. Ganz Frankreich zitterte, wenn man diesen Beinamen erwähnte. Kaum tauchte er irgendwo auf, wußte man, jetzt knallt's. Er fiel wie ein Orkan über die feindlichen Truppen her. Er hatte noch nicht die Pistole gezogen, da nahmen die Paras schon die Beine unter die Arme und schwammen übers Mittelmeer, um sich unter die Röcke ihrer Mütter zu flüchten ... Ich bin '55 zur ALN [ (frz.) Abkürzung für Armee de Liberation Nationale, die Nationale Befreiungsarmee des FLN] gestoßen. Fast zur selben Zeit wie der Linkshänder. Er hatte mich rekrutiert, da habe ich nicht lange gefackelt. Ich wußte, mit einem Mann wie dem, da muß man einfach siegen. Wir waren nicht mehr als fünfzehn Kämpfer im Maquis von Sidi Ba damals und nicht mal alle bewaffnet. Wenn wir in die Dörfer runtergingen, um uns Verpflegung zu holen, haben wir junge Baumstämme mitgeschleppt und sie in Planen gewickelt, damit sie wie Bazookas aussahen. Der Bluff funktionierte ausgezeichnet, denn daraufhin kamen Freiwillige zu uns. Ich hatte sogar eine klapprige Pistole im Halfter, aber keine Patrone in der Trommel. Was mich nicht daran hinderte, mich mit den Kolonisten anzulegen. Ich hatte vor niemandem Angst und schreckte vor nichts zurück. Erst als wir im Februar '56 aus dem Hinterhalt so an die zwanzig französische Militärs getötet hatten, kamen wir zu einer anständigen Ausrüstung .«
Unaufhörlich, durchfallartig fließt das Heldenepos aus ihm heraus. Schon beim bloßen Anhören solcher phantastischen, unüberprüfbaren Geschichten stehen einem die Haare zu Berge. Das nationalistische Geschrei und die herrschende Propaganda begünstigen ihre Verbreitung und ermuntern beamtete Schwachköpfe, sie in industrieller Massenproduktion zu erfinden, um so ihre historische Legitimität auf ewig zu garantieren.
Ich halte es für klüger, die Unterhaltung nicht in fruchtlose Phantastereien ausufern zu lassen, und marschiere schnurstracks auf mein Ziel zu.
»Was mich interessiert, ist die Zeit nach dem 5. Juli 1962, Monsieur En-Nems.«
Er zuckt zusammen, ungläubig und beleidigt über mein mangelndes Interesse an der Gründungsphase der algerischen Nation, vor allem aber an der Freiheitsvorstellung der unterdrückten Völker Afrikas und anderer Länder.
»Was? ... Nach dem 5. Juli ist nichts mehr passiert, mein Lieber. Die Revolution ist stehengeblieben an diesem Tag. Wir bewegen uns seither mit Riesenschritten rückwärts.«
»Haben Sie einen gewissen Talbi gekannt?«
Diesmal erstarrt er.
»Was für einen Talbi?« ruft er mit rissiger Stimme aus.
»Er hat bis August '62 in Sidi Ba gewohnt. Danach wurden er und seine ganze Familie als vermißt gemeldet.«
En-Nems schluckt. Er wird aschfahl. In der Stille der Werkstatt erinnert sein Atem an das Zischen eines Dampfkessels. Er streckt einen Finger in Richtung Tür und brüllt: »Raus!«
Meine Frage nach Talbi rief bei zwei weiteren Zeugen dieselbe Reaktion hervor. Zunächst begeistert bei dem Gedanken, ihre Heldentaten aufzupolieren, besannen sie sich plötzlich völlig anders, sobald ich den Namen Talbi ausgesprochen hatte, als hätte ich mit einem Fußtritt ihre Luftschlösser zerstört. Der eine empfahl mir, nie wieder einen Schritt über seine Schwelle zu wagen, der andere schwor, mir mit seiner Hacke den Schädel zu spalten, wenn ich noch einmal den Namen dieses »verdammten Verräterschweins« erwähnen sollte.
Zurück im Hotel, finde ich Soria in ihre Notizen und Akten vertieft vor. Sie sollte eine Mudjahida treffen, aber als der Name der Talbis fiel, sagte die Zeugin ab.
»In drei Tagen sind wir nicht einen
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