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Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Einbruch der Dunkelheit das magische Puzzle der Felder zu betrachten und die Hirten mit ihren Herden nach Hause zurückkehren zu sehen. Oft war ich mit dem zierlichen Arezki Nai't Wali unterwegs, der später Maler wurde. Wir waren klein und arm, aber wir hatten Phantasie. Wir liebten die Hügelkuppen, die sich wie eine Kette bis zum Horizont hinzogen, die Obsthaine, die sich bis ins Unendliche ausbreiteten, mit ihren schneeweißen Mandelbäumen und den schweigsamen Olivenbäumen, ebenso wie das Gebimmel der Glöckchen um den Hals der Ziegen und den Fluß, der sich wie eine wundersame Natter zwischen den Tälern und dem majestätisch über alles wachenden Gebirge hindurchschlängelte.
    Der Bauer stößt zu uns und wischt sich im Gehen die Hände an den Seiten ab.
    »Ist es nicht eine Pracht!« ruft er aus. »Die Natur ist ein Genie, aber die Menschen verunstalten sie, um sie nach ihrem Bild zu formen. Schauen Sie sich das Dorf da unten an. Sieht aus wie ein riesiger Schandfleck auf einem fliegenden Teppich. Ich würde niemals in einem solchen Saustall leben wollen. Hier habe ich gesunde Arbeit, saubere Luft und Ruhe. Ich habe keine Nachbarn, also auch keinen Lärm und keinen Streit. Und wenn ich mich abends zu Bett lege, spüre ich manchmal, wie sich der Planet dreht.«
    »Sie sind ein Poet, Monsieur Labras«, sagt Soria zu ihm.
    »Nur ein einfacher Mensch, Madame. Ich mag es, mit der Natur verbunden zu sein. Da bin ich in meinem Element und habe nicht das Gefühl, auf irgend etwas warten oder irgend etwas entbehren zu müssen. Ich hatte das Glück, daß ich keine Schule besucht habe und auf vernünftige Leute gestoßen bin, die mir Lesen und Schreiben beibrachten. Dadurch habe ich gelernt, mich auf das Wesentliche zu beschränken.«
    »Gab es keine Schule in Ihrem Dorf?«
    »Sagen wir eher, daß mein Vater einen Hirten brauchte. Ich mag Tiere sehr gern. Und trotzdem sind Bücher meine ganze Leidenschaft. Bei meinem Einsiedlerdasein sind sie mir zu Propheten geworden.«
    »Sie leben allein?«
    »Ich war verheiratet, vor dreißig Jahren. Meine Frau ist sehr jung gestorben. Das war so schmerzlich für mich, daß ich nicht den Mut hatte, es noch einmal zu versuchen ... Aber was wollen Sie eigentlich wissen?«
    Soria geht um mich herum, um sich näher zu ihm zu setzen.
    »Wir arbeiten an einer historischen Abhandlung«, informiert sie ihn. »Speziell über die chaotischen Zustände nach dem 5. Juli '62, in deren Folge das Land von blutigen Unruhen erschüttert wurde.«
    Labras verzieht das Gesicht. Quälende Erinnerungen verdüstern seinen Blick. Er senkt das Kinn bis zur Brust und buddelt mit der Fußspitze einen Stein aus dem Gras.
    »Das ist ein sehr umstrittenes Thema, finden Sie nicht? Es gibt nur wenige, die sich damit befassen und nicht irgendwelchen Repressalien ausgesetzt sind. Ich hoffe, Sie wissen, auf was Sie sich da einlassen.«
    »Es wird höchste Zeit, einen Schlußpunkt unter diesen Krieg zu setzen«, sagt Soria. »Das kann man aber nur, wenn man den Tatsachen klar ins Gesicht sieht. Es sind schreckliche Dinge passiert. Um mit ihnen fertig zu werden, muß man sie erst einmal akzeptieren. Davon sind mein Kollege und ich überzeugt. Wir haben eine Menge Erinnerungsarbeit zu leisten.«
    Der Bauer hebt den Kopf. Sorias Worte lassen seine Augen aufleuchten.
    »Sie machen einen ehrlichen Eindruck, Madame«, bekennt er traurig. »Das ist selten heutzutage.«
    »Vielleicht ist es so, weil wir über die Dinge schweigen.«
    »Möglicherweise ... Manches Schweigen ist unerträglich. Und mit der Zeit versucht man sich damit abzufinden. Aber wenn man sich ständig selbst betrügt, wird man sich irgendwann fremd.«
    Er bückt sich, hebt den Stein auf, den er ausgebuddelt hat, und wirft ihn weg.
    »Haben Sie niemals daran gedacht, Ihre Zelte hier abzubrechen?« frage ich ihn, um ein gewisses Unbehagen, das seine Verbitterung über uns drei gelegt hat, zu zerstreuen.
    »Ab und zu schon, aber das hält bloß eine Zigarettenlänge an. Ich kann es mir nur schwer vorstellen, weit weg von den Bergen zu leben. Und gleichzeitig kann ich Ihnen unmöglich sagen, was mich hier hält. Früher war es ein Grauen, jetzt ist es eher ein Gefühl von Traurigkeit.«
    »Mir geht es ähnlich«, pflichte ich ihm bei.
    Das scheint ihn aufzumuntern. Er buddelt einen zweiten Stein aus, rollt ihn in seiner Hand hin und her und richtet sich wieder auf.
    »Dabei ließ es sich früher hier gut leben«, räumt er ein. »Sicherlich, wir waren arm,

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