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Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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aber nicht so armselig wie heute. Dann kam der Krieg. Er hat weder die einen noch die anderen verschont. Und als der Waffenstillstand vereinbart wurde, waren alle erleichtert. Doch die Feststimmung hielt nicht lange an. Sobald die französischen Militärs abzuziehen begannen, flammten die Greueltaten mit doppelter Grausamkeit wieder auf. Tag und Nacht wurden ganze Familien von denjenigen gejagt, die angeblich ihre Befreier gewesen waren. Die Fellagas waren nicht zu bändigen, sie steckten Häuser und Felder in Brand, den Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren folgten beispiellose Säuberungsaktionen. Jeden Morgen wurden die sogenannten Verräter, denen man Nase und Mund abgeschnitten hatte, durch die Gassen getrieben, bevor man ihnen auf dem Dorfplatz die Kehle durchtrennte. Ich werde niemals diese Hunderte von zerstückelten Körpern vergessen, die in den Obstplantagen verwesten, diese armen Teufel, die dem Volkszorn ausgeliefert waren und von den Gören gesteinigt und bespuckt wurden, und auch nicht die Frauen und verängstigten Kinder, die in die Berge flohen, von wo sie nie mehr zurückkehrten .«
    »Sie sprechen von den Harki-Massakern?«
    »Was soll das sein, ein Harki?« stößt er empört hervor.
    »Was ist das genau? Na los, klär mich auf. Was ist das, ein Harki .?«
    Da er sieht, daß ich keinen Laut von mir gebe, fährt er mit bebender Stimme fort:
    »Ein Pechvogel ist das; in einem Moment, wo alles schiefläuft, hat er die falsche Wahl getroffen. Da hast du deinen Harki. Erst Prügelknabe, dann Sündenbock der Geschichte . Wer am Hungertuch nagt, kann sich nicht unter einer warmen Decke ausruhen, Herr Historiker. Entweder er verkauft seine Seele, oder er wird unter den Hufen des Teufels zermalmt. Es war ein Scheitern auf der ganzen Linie. Abgesehen von ein paar Gebildeten und einer Handvoll aufgeklärter Städter, war der Nationalismus etwas, was in den Bereich der Esoterik fiel. Was waren wir denn damals? Muslimische Franzosen, deren Rücken unter dem Kolonialjoch so gebeugt waren wie die unserer Esel auf der Weide. Eingeborene, ja, das waren wir. Arme Schlucker in abgetragenen Klamotten, über und über mit blauen Flecken bedeckt, die Hände von der undankbaren Arbeit ganz rauh und rissig, und in Hosen, die so oft zusammengeflickt waren, daß sie schwer wie eine Sträflingskugel an einem hingen. Eingeschüchterte, gespenstische Gestalten, deren Frauen jeden Freitag beim Marabut an der Ecke Kerzen ansteckten, um den bösen Zauber zu bannen, während ihre Sprößlinge im Schatten der Hölle unablässig auf Betteltour gingen. Wir schufteten uns zu Tode, um nicht vor Hunger zu krepieren, und oft nahm uns der Tod beim Wort. Manche halfen als Stallburschen, Leibeigene, Viehhirten oder Fliegenfänger aus, andere fielen über die Kasernen her und wurden Goumier [Nordafrikanische Söldner, die sich im Krieg für Frankreich verdingten], Spahi oder Zuave, nicht um Krieg zu spielen, sondern einfach um dafür zu sorgen, daß der Suppentopf zu Hause mal wieder dampfte. Es war eine verfluchte Zeit. Die Geschichten, die uns unsere Mütter erzählten, um uns von unseren knurrenden Mägen abzulenken, waren nicht dazu angetan, uns die Augen zu öffnen. Was wir von unseren Stämmen wußten, beschränkte sich auf die Friedhöfe. Unsere Urgroßeltern haben sich 1870 für den Ruhm Frankreichs verheizen lassen, unsere Großväter sind 1914-18 in den Schützengräben für die Rettung Frankreichs an Giftgas gestorben, unsere Väter haben sich im Zweiten Weltkrieg für die Ehre Frankreichs an allen Fronten zerfetzen lassen, und die Überlebenden wurden, statt Dankbarkeit zu empfangen, am 8. Mai 1945 wie verseuchtes Vieh ausgerottet, an dem Tag, an dem die ganze Welt, vom Faschismus befreit, von den Dächern herab und auf den öffentlichen Plätzen >Nie wieder!< rief. Für die Masse der Müllmänner, für den kleinen Schuhputzer, für den einfältigen Bauern wie für den Ladenbesitzer in den afrikanischen Kolonien war Frankreich das Mutterland. Es stimmt, die Ungleichheit war himmelschreiend, und all die Parolen und Versprechungen klangen irgendwie falsch, aber wir waren zu arm und durch unser Elend zu abgestumpft, als daß wir die Muße gehabt hätten, etwas - ja, was denn überhaupt? - zu wollen. Der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten, war dieses mit Reißzwecken ungeschickt an die Lehmwand geheftete, schon ganz vergilbte Foto, das uns von den Heldentaten irgendeines in seine französische Uniform gezwängten Verwandten

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