Nacht über Algier
Zuerst war ich als Verbindungsoffizier tätig. Meine Aufgabe bestand darin, die Einheiten, die sich vorübergehend in diesem Bezirk aufhielten, zu unterstützen. Manchmal mußte ich sie auch bei mir unterbringen, oder ich hatte die Truppenbewegungen abzusichern. '56 hat mich ein Spitzel verpfiffen. Ich wurde verhaftet, gefoltert und zu fünf Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Mit einer Gruppe von Häftlingen gelang es mir zu fliehen. '58 war ich im Maquis von Chrea, dann habe ich um meine Versetzung gebeten und wurde in die Berge von Sidi Ba geschickt. Dort war ich Hauptfeldwebel unter dem Kommando des Linkshänders. '59 wurde unser Bataillonschef während eines Gefechts mit den französischen Paras getötet. Der Linkshänder ist an seine Stelle gerückt, aber ich bin bis zum Ende des Krieges in der Kompanie geblieben.«
»Kennen Sie die .«
»Talbis?«
Mein Erstaunen amüsiert ihn.
»Die ganze Stadt ist auf dem laufenden, Kommissar.«
»Sie haben sie gekannt?«
»Und ob! Damals war Sidi Ba nicht viel mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Alle Welt kannte sich. Wir waren fast alle vom gleichen Stamm. Die Talbis wohnten in einem kleinen Haus an der römischen Brücke. Das waren friedliche Leute. Kaddour, der Vater, war Viehhändler. Ameur, der Sohn, ungefähr in meinem Alter. Wir waren nicht befreundet, aber manchmal tranken wir zusammen einen Kaffee, wenn wir uns zufällig trafen. Als der Vater bei einem Hochwasser ums Leben kam, steckte der Sohn bis zum Hals in Schulden. Die Gläubiger seines Vaters haben ihn ruiniert. Xavier Lapaire, der Kolonist, der das größte Gut in der ganzen Umgebung besaß, hat ihn als Buchhalter eingestellt. Soviel ich weiß, ist Ameur nicht ins andere Lager übergewechselt. Er war weder gegen die Revolution noch für die Befriedung. Die Säuberungsaktionen vom Juli '62 haben ihn nicht betroffen. Ich erinnere mich nicht, daß ein Mudjahid ihm je irgend etwas vorgeworfen hätte.«
»Er war also kein Harki?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Warum hat man ihn dann mit seiner ganzen Familie umgebracht?«
»Ich sage Ihnen, er mußte sich keine Sorgen machen. Die Massaker an den Harkis zogen sich hier bei uns nicht lange hin. Nach drei Tagen und drei Nächten war alles vorbei. Als die französischen Soldaten von den Höhen bei Sidi Ba abzogen, versuchten die Harkis sich ihnen anzuschließen. Aber der Linkshänder hatte sich mit einem französischen Offizier namens Barrot über das weitere Vorgehen verständigt. Der Franzose sollte keine Araber mitnehmen. Unsere Leute kontrollierten die Fahrzeuge seiner Einheit und haben dabei einen Verräter erwischt. Der Linkshänder war verärgert und hat ihn an Ort und Stelle bei lebendigem Leibe verbrennen lassen. Am selben Tag wurde die Jagd auf die Abtrünnigen angeordnet. Am Ende der dritten Nacht verbuchte man allein für die Gemeinde von Sidi Ba hundertneunundfünfzig Tote. Die Talbis waren nicht unter den Opfern.«
»Sie wurden Anfang August getötet.«
»Wer hat Ihnen denn diesen Blödsinn erzählt, Kommissar? Bis zum Beweis des Gegenteils gelten die Talbis als vermißt. Man hat sie niemals ausfindig machen können, es gibt weder Leichen noch irgendwelche Angaben zu ihrem Aufenthaltsort.«
»Unsere Zeugen berichten, daß bewaffnete Typen sie nachts rausgeholt und irgendwo hingebracht haben, von wo sie nicht wieder zurückgekehrt sind.«
»Kann sein, aber nicht, um sie hinzurichten. Es haben keine weiteren Massaker mehr stattgefunden. Nach den ersten Übergriffen wurde der Befehl erlassen, die Strafexpeditionen gegen die Verräterfamilien einzustellen. Die festgenommenen Harkis hat man an die Gefängnisse der Republik ausgeliefert. Allerdings ist es vorgekommen, daß unerwünschte Familien gezwungen wurden, die Gegend zu verlassen. Wahrscheinlich ist das der Fall bei den Talbis gewesen. Wie bei Tausenden anderer Familien auch, die sich dort, wo sie lebten, bedroht fühlten.«
»Was hat man Ameur Talbi eigentlich vorgeworfen? Sie sagen, daß er nicht mit der französischen Armee kollaboriert hat.«
»Vielleicht, daß er mit Xavier Lapaire, dem Kolonisten, eng befreundet war. Der Linkshänder haßte die Franzosen und noch mehr die Araber, die mit ihnen verkehrten.«
»Es wird erzählt, daß einer von Talbis Söhnen, Belkacem, damals ungefähr zwölf Jahre alt, seinen Entführern in jener Nacht entwischen konnte.«
»Ich hab das auch gehört, aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, denn der Junge wurde nie wieder
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