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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ihre Angst vor dem Leben in Amerika unbedeutend waren, verglichen mit der allerwichtigsten Frage: Mit wem wollte sie leben? Sie liebte Mark, und Mark liebte sie, alles andere war unbedeutend. Eine ungeheure Erleichterung erfüllte sie, als sie ihre Entscheidung traf. Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid, Mervyn«, erklärte sie. »Ich gehe mit Mark.«
    Nancy Lenehan war überglücklich, als sie von Mervyn Loveseys Tiger Moth hinunterblickte und den Pan-American-Clipper majestätisch auf dem ruhigen Wasser der Shannonflußmündung schwimmen sah.
    Ihre Chancen hatten nicht sehr gut gestanden, doch jetzt hatte sie ihren Bruder so gut wie eingeholt und zumindest einen Teil seines Planes vereitelt. Man muß schon sehr früh aufstehen, wenn man Nancy Lenehan an der Nase herumführen will, dachte sie triumphierend.
    Peter würde einen ordentlichen Schock bekommen, wenn er sie sah.
    Als das kleine gelbe Flugzeug kreiste und Mervyn sich nach einem Landeplatz umsah, wurde Nancy bei dem Gedanken an die bevorstehende Konfrontation mit ihrem Bruder ganz nervös. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, daß er sie tatsächlich mit einer solchen Skrupellosigkeit getäuscht und betrogen hatte. Wie konnte er das nur? Als Kinder hatte man sie gemeinsam gebadet. Sie hatte ihm Heftpflaster auf die Knie geklebt, ihm erzählt, wie Babys gemacht wurden, und immer ihr Kaugummi mit ihm geteilt. Sie hatte seine Geheimnisse gehütet und ihm ihre anvertraut. Als sie erwachsen waren, hatte sie alles getan, sein Selbstbewußtsein zu stärken, hatte ihn nie in Verlegenheit damit gebracht, daß sie viel klüger war als er, obwohl sie ein Mädchen war.
    Ihr ganzes Leben hatte sie sich um ihn gekümmert. Und als Vater starb, hatte sie gestattet, daß Peter der Vorsitzende der Gesellschaft wurde. Das war sie teuer zu stehen gekommen. Sie hatte nicht nur ihre eigenen Ambitionen unterdrücken müssen, um den Weg für ihn freizumachen, sondern auch eine knospende Romanze beendet, denn Nat Ridgeway, Vaters rechte Hand, hatte gekündigt, als Peter die Leitung übernahm. Ob aus dieser Romanze mehr geworden wäre, würde sie nie erfahren, denn Ridgeway hatte längst geheiratet.
    Ihr Freund und Anwalt Mac MacBride hatte ihr davon abgeraten, Peter den Vorsitz zu überlassen, aber sie hatte gegen seinen Rat und gegen ihre eigenen Interessen gehandelt, weil sie wußte, wie sehr es Peter verletzen würde, wenn die Leute dachten, er wäre unfähig, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Wenn sie sich erinnerte, was sie alles für ihn getan hatte, und dann daran dachte, wie er sie belogen und zu betrügen versucht hatte, stiegen ihr vor Zorn die Tränen in die Augen.
    Sie konnte es nicht erwarten, ihn zur Rede zu stellen. Sie wollte wissen, wie er reagieren und was er sagen würde.
    Und sie brannte darauf, sich in den Kampf zu stürzen. Daß sie Peter einholte, war nur der erste Schritt. Sie mußte an Bord dieses Flugzeugs gelangen! Vielleicht würde es ohne weiteres gehen, aber möglicherweise war der Clipper voll besetzt, dann mußte sie versuchen, jemandem die Passage abzukaufen oder ihren Charme beim Flugkapitän spielen zu lassen, oder gar durch Bestechung an Bord zu gelangen. Dann, wenn sie in Boston war, mußte sie die Minoritätsaktionäre, ihre Tante Tilly und Danny Riley, den alten Anwalt ihres Vaters, dazu bringen, daß sie sich weigerten, ihre Anteile an Nat Ridgeway zu verkaufen. Sie war überzeugt davon, daß ihr das gelingen würde, aber Peter würde nicht kampflos aufgeben, und Nat Ridgeway war ein ernstzunehmender Gegner.
    Mervyn landete den Doppeldecker auf einem Feldweg am Rand eines Dorfes. Nancy war vollkommen verblüfft, als er – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – gute Manieren bewies und ihr beim Aussteigen half. Als sie zum zweitenmal Fuß auf irischen Boden setzte, dachte sie an ihren Vater, der die alte Heimat nie besucht hatte, obwohl er immer davon sprach. Sie fand das traurig. Er hätte sich gefreut, wenn er gewußt hätte, daß seine Kinder Irland gesehen hatten. Aber es hätte sein Herz gebrochen, wenn er hätte erleben müssen, daß die Firma, die sein ganzer Lebensinhalt gewesen war, von seinem Sohn zugrunde gerichtet wurde. Es war besser, daß er das nicht mehr sehen konnte.
    Mervyn machte das Flugzeug fest. Nancy war erleichtert, daß sie nicht mehr hineinklettern mußte. So hübsch es aussah, hätte es sie doch fast das Leben gekostet. Sie schauderte noch immer, wenn sie sich erinnerte, wie sie auf die Klippen

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