Nacht über den Wassern
zugeflogen waren. Sie hatte nicht vor, je wieder in eine so kleine Maschine zu steigen.
Sie marschierten rasch ins Dorf, hinter einem mit Kartoffeln beladenen Pferdefuhrwerk her. Nancy spürte, daß auch Mervyn gleichermaßen Triumph und Besorgnis empfand. Wie sie war er getäuscht und betrogen worden und hatte sich geweigert, es kampflos hinzunehmen, und wie ihr war es ihm eine tiefe Genugtuung, daß er jene, die heimlich gegen ihn vorgegangen waren, unliebsam überraschen würde. Aber die wirkliche Herausforderung stand ihnen beiden noch bevor.
Eine einzige Straße führte durch Foynes. Auf halbem Weg begeg- neten sie einer Schar gutgekleideter Personen. Das konnten nur die Clipperpassagiere sein. Sie sahen aus, als hätten sie sich in die falschen Kulissen eines Filmateliers verirrt. Mervyn ging auf die Gruppe zu und sagte: »Ich suche Mrs. Diana Lovesey – ich glaube, sie ist ein Passagier des Clippers.«
»Und ob!« erwiderte eine Frau, und Nancy erkannte, daß es die Filmdiva Lulu Bell war. Ihr Ton verriet, daß sie Mrs. Lovesey nicht mochte. Wieder fragte sich Nancy, wie Mervyns Frau wohl sein mochte. Lulu Bell fuhr fort: »Mrs. Lovesey und ihr – Freund? – sind in ein Pub, ein Stück die Straße hoch, gegangen.«
»Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich den Flugkartenschalter finde?« fragte Nancy.
»Wenn ich je in einem Film eine Reiseführerin spielen muß, werde ich nicht mehr zu proben brauchen!« sagte Lulu, und die anderen lachten. »Das Gebäude der Fluggesellschaft ist ganz am Ende der Straße, hinter dem Bahnhof, dem Hafen gegenüber.«
Nancy dankte ihr und ging weiter. Mervyn war bereits losmarschiert, und sie mußte laufen, wenn sie ihn einholen wollte. Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und starrte auf zwei Männer, die in ein Gespräch vertieft die Straße entlangspazierten. Nancy blickte sie neugierig an und fragte sich, weshalb Mervyn ihretwegen so überrascht angehalten hatte. Einer war ein sichtlich wohlhabender grauhaariger Herr in schwarzem Anzug und taubengrauer Weste, offensichtlich ein Clipperpassagier; der andere eine wahre Vogelscheuche, groß und hager, das Haar so kurz, daß er fast kahlköpfig wirkte, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er gerade aus einem Alptraum erwacht. Mervyn ging auf die Vogelscheuche zu und fragte: »Sie sind Professor Hartmann, nicht wahr?«
Die Reaktion des Mannes war bestürzend. Er sprang einen Schritt zurück und warf schützend die Hände hoch, als glaubte er, angegriffen zu werden.
Sein Begleiter sagte: »Ist schon gut, Carl.«
»Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Ihnen die Hand schütteln dürfte, Sir«, erklärte Mervyn.
Hartmann ließ die Arme sinken, wirkte jedoch immer noch mißtrauisch. Er gab Mervyn die Hand.
Nancy staunte. So, wie sie Mervyn eingeschätzt hatte, hätte sie nicht gedacht, daß er irgend jemanden auf der Welt als ihm überlegen anerkennen würde. Doch jetzt benahm er sich wie ein Schuljunge, der einen Baseballstar um ein Autogramm bat.
»Ich bin so froh, daß Sie herausgekommen sind«, sagte Mervyn. »Wissen Sie, wir hatten das Schlimmste befürchtet, als Sie so spurlos verschwanden. Übrigens, ich bin Mervyn Lovesey.«
»Das ist mein Freund Baron Gabon«, stellte Hartmann seinen Begleiter vor. »Er hat mir bei der Flucht geholfen.«
Mervyn schüttelte jetzt auch Baron Gabon die Hand, dann meinte er: »Ich will nicht länger stören. Gute Reise, Gentlemen.«
Hartmann muß etwas ganz Besonderes sein, dachte Nancy, wenn der aufgebrachte Mervyn darüber immerhin für ein paar Augenblicke die zielstrebige Verfolgung seiner Frau vergißt. Während sie weiter durch den Ort marschierten, fragte sie ihn: »Wer war das?« »Professor Carl Hartmann, der größte Physiker der Welt«, antwortete Mervyn. »Er hat an der Spaltung des Atoms gearbeitet. Wegen seiner politischen Einstellung hat er sich bei den Nazis unbeliebt gemacht, und alle haben ihn bereits für tot gehalten.«
»Woher wußten Sie von ihm?«
»Ich habe Physik studiert und habe auch einmal mit dem Gedanken gespielt, Forscher zu werden, aber mir fehlt die Geduld. Ich halte mich allerdings auf dem laufenden, was die Entwicklung betrifft. Tatsächlich hat es in den letzten zehn Jahren erstaunliche Entdeckungen auf dem Gebiet der Atomforschung gegeben.«
»Beispielsweise?«
»Der Österreicherin Lise Meitner – sie ist übrigens auch vor den
Nazis geflohen und arbeitet jetzt in Kopenhagen – ist es gelungen, Urankerne in zwei kleinere Atome zu
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