Nacht über den Wassern
Doch da drehte Mervyn sich auch schon um und ging weiter.
Mark blickte auf. »Was ist denn los?« Er hatte Mervyn nicht gesehen. Diana zu küssen hatte all seine Aufmerksamkeit beansprucht.
Sie entschied sich, ihm nichts zu sagen. »Vielleicht sieht uns jemand«, murmelte sie.
Widerstrebend machte er sich von ihr frei.
Einen Augenblick lang fühlte sie sich erleichtert, doch dann spürte sie, wie die Wut in ihr hochstieg. Mervyn hat kein Recht, mir durch die halbe Welt nachzureisen und jedesmal, wenn ich Mark küsse, dabeizustehen und die Stirn zu runzeln, dachte sie. Eine Ehe ist keine Sklaverei: Ich habe ihn verlassen, und er wird es schlucken müssen… Mark zündete sich eine Zigarette an. Diana hatte das Bedürfnis, Mervyn zur Rede zu stellen. Sie wollte ihm sagen, daß er sie gefälligst in Ruhe lassen sollte.
Sie erhob sich. »Ich werde mal nachschauen, was im Salon los ist«, sagte sie. »Bleib du hier und rauch deine Zigarette.«
Sie ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
Da sie sich bereits vergewissert hatte, daß Mervyn nicht im rückwärtigen Teil saß, begab sie sich diesmal in den vorderen Teil der Maschine. Die Luftturbulenzen hatten sich so weit beruhigt, daß man sich fortbewegen konnte, ohne dauernd Halt suchen zu müssen. Im
Abteil Nummer drei war Mervyn auch nicht. Im Salon machten es sich die Kartenspieler gemütlich und richteten sich für eine lange Nacht ein. Sie hatten die Sitzgurte angelegt, die Luft war blau vor Rauch, und auf dem Tisch stand eine Batterie Whiskyflaschen. Diana ging weiter in das Abteil Nummer zwei. Eine Seite belegten die Oxenfords. Jeder an Bord wußte inzwischen, daß Lord Oxenford den Wissenschaftler Carl Hartmann beleidigt hatte und daß Mervyn Lovesey Hartmann zur Seite gesprungen war. Mervyn hatte durchaus seine guten Seiten: Diana hatte das nie abgestritten.
Als nächstes kam die Küche. Nicky, der schwergewichtige Steward, spülte dort in unwahrscheinlichem Tempo das Geschirr, während sein Kollege weiter hinten Betten baute. Der Küche gegenüber befand sich die Herrentoilette, dahinter die Treppe zum Flugdeck. Danach kam nur noch das Abteil Nummer eins, das sich in der Nase der Maschine befand. Diana vermutete, daß Mervyn sich dort aufhielt. In Wirklichkeit war es jedoch mit Besatzungsmitgliedern belegt, die gerade nicht im Dienst waren. Sie stieg die Treppe zum Flugdeck hinauf. Es war, wie sie bemerkte, nicht weniger luxuriös als das Passagierdeck. Die Besatzung wirkte allerdings sehr beschäftigt, und einer der Männer sagte zu ihr: »Wir würden Ihnen ja gerne alles zeigen, Madam, doch solange dieses schlechte Wetter anhält, müssen wir Sie bitten, an Ihrem Platz zu bleiben und den Sicherheitsgurt anzulegen.«
Mervyn wird also auf der Toilette sein, dachte sie und ging die Treppe wieder hinunter. Wo sein Sitzplatz war, hatte sie immer noch nicht herausgefunden. Am Fuß der Treppe stieß sie mit Mark zusammen. Ihr schlechtes Gewissen ließ sie gehörig erschrecken. »Was machst du denn hier?« fragte sie.
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, erwiderte er, und seine Stimme hatte einen unangenehmen Beiklang.
»Ich habe mich nur mal umgesehen.«
»Und Mervyn gesucht?« Der Vorwurf war unüberhörbar.
»Mark, warum bist du denn so böse?«
»Weil du dich davonschleichst, um dich mit ihm zu treffen.«
Nicky unterbrach sie. »Meine Herrschaften, würden Sie bitte zu Ihren Sitzen zurückkehren? Im Augenblick ist es zwar ruhig, aber es wird nicht mehr lange so bleiben.«
Sie machten sich auf den Rückweg zu ihrem Abteil. Diana kam sich töricht vor. Sie war Mervyn nachgestiegen – und Mark ihr. So etwas Dummes! Sie setzten sich. Bevor sie ein neues Gespräch beginnen konnten, kamen Ollis Field und Frank Gordon herein. Frank trug einen Morgenmantel aus gelber Seide mit einem Drachen auf dem Rücken, Field ein schäbiges altes Stück aus Wolle. Als Frank seinen Mantel auszog, kam ein weinroter Schlafanzug mit weißen Biesen zum Vorschein. Er entledigte sich seiner Hausschuhe und kletterte über die kleine Leiter ins obere Bett. Dann zog Field zu Dianas Entsetzen ein Paar silbrig glänzende Handschellen aus der Tasche seines braunen Mantels. Leise redete er auf Frank ein. Dessen Antwort konnte Diana nicht verstehen, es war jedoch unüberhörbar, daß Frank protestierte. Field ließ jedoch nicht locker, und Frank hielt ihm schließlich ein Handgelenk hin. Field legte ihm eine Handschelle um und befestigte die andere am Bettrahmen. Dann zog er für
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