Nacht über den Wassern
schüttelte den Kopf. »Eine Küche kannst du dir nicht leisten. Das Mittagessen wird deine einzige warme Mahlzeit sein, und wenn du nach Hause kommst, gibt es eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen oder eine Scheibe Toast – vorausgesetzt, du hast einen Ofen.«
Sie wußte, daß er sie auf eine in seinen Augen unangenehme Realität vorbereiten wollte. Trotzdem kam ihr alles herrlich romantisch vor. Allein der Gedanke, jederzeit im eigenen kleinen Zimmer Tee und Toast machen zu können, ohne sich um Eltern oder mürrische Dienstboten kümmern zu müssen … es klang wunderbar. »Leben die Eigentümer normalerweise auch im Haus?«
»Manchmal. Wenn ja, ist es gut, denn sie halten das Haus in
Ordnung. Andererseits stecken sie gerne ihre Nase in deine Angelegenheiten. Aber wenn der Besitzer woanders wohnt, verfallen die Häuser oft: Rohrbrüche, abblätternder Putz, undichte Dächer und so weiter.«
Margaret begriff, daß sie noch viel lernen mußte, aber nichts von dem, was Harry gesagt hatte, schreckte sie ab – dazu war es einfach viel zu aufregend. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, betraten die Passagiere und Besatzungsmitglieder, die von Bord gegangen waren, wieder die Maschine, und auch ihre Mutter kehrte blaß, aber schön aus dem Waschraum zurück. Margarets Hochgefühl verschwand im Nu. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Mutter und wußte, daß die abenteuerliche Flucht mit Harry nicht ohne Trennungsschmerz abgehen würde.
Normalerweise aß sie nie sehr viel zum Frühstück, aber heute war sie vollkommen ausgehungert. »Ich möchte Rühreier mit Speck«, erklärte sie. »Eine ordentliche Portion sogar.« Harry sah sie an, und ihre Blicke kreuzten sich. Margaret begriff, daß sie so hungrig war, weil sie sich die ganze Nacht geliebt hatten. Sie unterdrückte ein Grinsen. Er hatte ihre Gedanken erraten und sah schnell in eine andere Richtung.
Wenige Minuten später hob das Flugzeug ab. Es war bereits der dritte Start, und doch war Margaret nicht minder fasziniert als beim erstenmal. Die Angst war allerdings verflogen.
Harry will mit mir nach Boston gehen! dachte sie. Und das, obwohl er so attraktiv und charmant ist, daß die Mädchen bestimmt auf ihn fliegen – so wie ich… Harry schien auf eine ganz besondere Art von ihr angezogen zu sein. Es war alles so furchtbar schnell gekommen. Dabei benahm er sich äußerst vernünftig. Er verzichtete auf überspannte Liebesschwüre, gab ihr aber klar zu verstehen, daß er beinahe zu allem bereit war, um bei ihr bleiben zu können.
Seine Bereitschaft verscheuchte sämtliche Zweifel. Bislang hatte Margaret noch nicht recht an eine gemeinsame Zukunft mit Harry glauben mögen, doch nun hatte sie plötzlich volles Vertrauen zu ihm. Ich werde alles bekommen, was ich mir wünsche, dachte sie – Freiheit, Unabhängigkeit und Liebe.
Als die Maschine den Steigflug beendet hatte, wurden die Passagiere aufgefordert, sich am Frühstücksbuffet zu bedienen, und Margaret ließ sich das nicht zweimal sagen. Außer Percy, der Cornflakes vorzog, aßen sie alle Erdbeeren mit Sahne. Vater trank Champagner dazu, und Margaret nahm sich obendrein noch ofenwarme Brötchen und Butter.
Sie wollte gerade in ihr Abteil zurückkehren, als sie auf Nancy Lenehan stieß, die unschlüssig vor dem heißen Porridge stand. Nancy war wie immer wie aus dem Ei gepellt und hatte ihre graue Bluse vom Tag zuvor gegen eine marineblaue ausgetauscht. Sie winkte Margaret zu sich heran und sagte in gedämpftem Ton: »Ich habe in Botwood einen sehr wichtigen Anruf bekommen. Wie es aussieht, werde ich die Firma behalten. Sie können sich Ihrer Anstellung sicher sein.« Margaret strahlte vor Freude. »O danke!«
Nancy legte eine kleine weiße Visitenkarte auf Margarets Brotteller. »Rufen Sie mich an, wenn Sie soweit sind.«
»Das werde ich! In ein paar Tagen! Tausend Dank!«
Nancy legte den Zeigefinger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu.
Fröhlich kehrte Margaret in ihr Abteil zurück. Hoffentlich hat Vater die Visitenkarte nicht gesehen und stellt mich jetzt zur Rede, dachte sie. Glücklicherweise war er so sehr mit dem Essen beschäftigt, daß er alles andere ignorierte.
Über kurz oder lang wird er es erfahren müssen, dachte Margaret, während sie ihr üppiges Frühstück verzehrte. Mutter hat mich zwar angefleht, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aber das ist einfach nicht möglich. Mein Versuch, mich heimlich aus dem Staub zu machen, ist gescheitert. Diesmal muß ich mich offen
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