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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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den Frachtraum betreten hatte.
    Unmittelbar neben ihm erklang auf einmal eine Stimme. »Ich verstehe wirklich nicht, wie der Schuft uns durch die Lappen gehen konnte.«
    Sieh dir bloß nicht die Schließen auf der Seite an! dachte Harry besorgt.
    Oben auf dem Koffer pochte es, und Harry hielt den Atem an. Vielleicht stützt der Kerl nur seinen Ellenbogen auf, dachte er.
    Eine andere Stimme sprach aus größerer Entfernung.
    »Nee, in der Maschine ist er nicht mehr«, erwiderte der Mann. »Wir haben überall geguckt.«
    Der andere sagte wieder etwas. Harrys Knie schmerzten. Um Himmels willen, dachte er, haut doch endlich ab und quatscht irgendwo anders!
    »Wir kriegen ihn schon noch zu fassen. Der kann nicht zweihundert Kilometer bis zur Grenze latschen, ohne daß er gesehen wird.« Zweihundert Kilometer! Eine Woche brauche ich, um so weit zu gehen! dachte Harry. Vielleicht kann ich es ja per Anhalter versuchen, aber in dieser Wildnis fallen Leute wie ich unweigerlich auf.
    Eine Weile lang blieb es still. Dann hörte Harry, wie sich die Schritte entfernten.
    Er lauschte angespannt, aber nichts rührte sich.
    Er nahm sein Messer zur Hand und steckte es durch eines der Löcher, um die Schließe zu öffnen.
    Diesmal war es noch schwieriger. Seine Knie schmerzten so sehr, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte und umgefallen wäre, wenn er den Platz dazu gehabt hätte. Er war ungeduldig und stach mit der Klinge wiederholt durch das Loch. Panische Klaustrophobie überkam ihn, und er dachte schon, in seinem Versteck ersticken zu müssen. Er versuchte, sich zu beruhigen, und nach einer Weile gelang es ihm, die Schmerzen zu ignorieren und die Klinge behutsam durch das Loch zu schieben, so daß sie sich in der Schließe verfing. Er schob sie noch ein Stückchen weiter, und die Messingöse hob sich, rutschte aber weg. Er biß die Zähne zusammen und startete einen weiteren Versuch.
    Diesmal klappte es: Die Schließe sprang auf.
    Langsam und mühselig wiederholte er die Prozedur beim nächsten Verschluß.
    Endlich gelang es ihm, die beiden Hälften des Koffers auseinanderzuschieben und sich aufzurichten. Der Schmerz in seinen Knien wurde beinahe unerträglich, als er die Beine streckte. Um ein Haar hätte Harry laut aufgeschrien, doch da ließ der Schmerz auch schon nach.
    Was jetzt?
    Hier konnte er nicht von Bord gehen. Bis zur Ankunft in New York war er in seinem Versteck vermutlich einigermaßen sicher. Aber was dann?
    Ich werde mich in der Maschine verbergen und nachts das Weite suchen müssen.
    Vielleicht klappt es. Und ganz abgesehen davon: Ich habe keine andere Wahl. Die ganze Welt wird erfahren, daß ich Lady Oxenfords Juwelen gestohlen habe.
    Auch Margaret würde es erfahren, und das wog noch schwerer – vor allem deswegen, weil er keine Chance mehr hatte, mit ihr darüber zu reden.
    Je mehr er über dieses Szenario nachdachte, desto weniger behagte es ihm.
    Er hatte gewußt, daß der Diebstahl des Delhi-Ensembles seine Beziehung zu Margaret gefährden würde, aber er war auch stets davon ausgegangen , er wäre zur Stelle, wenn sie davon erfuhr, und könnte ihr folglich mit eigenen Worten alles erklären. Nicht, daß er sich bei dem Gedanken daran besonders wohl gefühlt hätte. Doch wie die Dinge standen, konnte es Tage dauern, bis er Margaret erreichte; wenn alles schiefging und er verhaftet wurde, sogar Jahre.
    Was sie denken würde, konnte er sich nur allzugut vorstellen: Er hatte sich mit ihr angefreundet, mit ihr geschlafen und ihr versprochen, ihr bei der Suche nach einer neuen Bleibe zu helfen – aber das war alles Lug und Trug, weil er nämlich den Schmuck ihrer Mutter geklaut und sie sitzengelassen hatte. Für Margaret mußte es so aussehen, als habe er es von vornherein auf die Juwelen abgesehen. Es würde ihr das Herz brechen, und ihre Zuneigung würde in Haß und Verachtung umschlagen.
    Bei diesem Gedanken wurde ihm fast schlecht vor Kummer.
    Erst jetzt realis ierte er, welche Veränderung mit ihm vorgegangen war, seit er Margaret begegnet war. Ihre Liebe zu ihm war echt, alles andere in seinem Leben hingegen reine Fälschung: sein Akzent, seine Manieren, seine Kleidung und seine ganze Lebensart – Lug und Trug, sonst nichts. Doch ausgerechnet in den Dieb, den vaterlosen Jungen aus der Arbeiterklasse, den echten Harry, hatte sich Margaret verliebt, und das war das Beste, was ihm je widerfahren war. Er stand im Begriff, es leichtfertig von sich zu weisen. Tat er es, so würde sich sein Leben nie

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