Nacht über den Wassern
ändern, sondern sich stets im gleichen Teufelskreis zwischen Hochstapelei und Gaunerei drehen. Erst Margaret hatte ihn dazu gebracht, nach mehr zu streben. Zwar mochte er die Hoffnung auf das Landhaus mit den Tennisplätzen nicht einfach aufgeben, doch wurde ihm immer klarer, daß er ohne Margaret niemals rechte Freude daran haben würde.
Er seufzte. Der gute alte Harry war nicht mehr der alte. Vielleicht wurde er allmählich erwachsen?
Er klappte Lady Oxenfords Koffer auf und zog das braune Lederetui mit dem Delhi-Ensemble aus der Tasche.
Er zog den Reißverschluß auf und betrachtete den Schmuck ein letztes Mal. Die Rubine glühten wie Feuer. Gut möglich, dachte er, daß ich dergleichen nie wieder zu Gesicht bekommen werde.
Schweren Herzens legte er den Schmuck in das Etui zurück – und das Etui in Lady Oxenfords Koffer.Nancy Lenehan saß am Ende des langen hölzernen Landungsstegs vor dem Flughafengebäude von Shediac, das mit seinen Blumenkästen und den Markisen über den Fenstern eher wie ein Wochenendhaus an der See aussah. Allerdings sprachen die Funkantenne neben dem Haus und der Beobachtungsturm auf dem Dach ihre eigene Sprache, so daß die eigentliche Funktion des Gebäudes niemandem verborgen bleiben konnte.
Neben Nancy saß Mervyn Lovesey in einem Liegestuhl, der das gleiche Streifenmuster aufwies wie der ihre. Das Wasser plätscherte beruhigend gegen den Steg, und Nancy schloß die Augen. Sie hatte nicht viel geschlafen, und bei der Erinnerung an das, was sich in der vergangenen Nacht zwischen Mervyn und ihr ereignet hatte, trat unwillkürlich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie war froh, daß sie nicht intim miteinander geworden waren. Es wäre zu übereilt gewesen. Jetzt gab es etwas, worauf sie sich freuen konnte.
Shediac war sowohl Fischerdorf als auch Erholungsort. Westlich des Landungsstegs erstreckte sich eine sonnenüberflutete Bucht, in der mehrere Fischerboote und zwei Kabinenkreuzer sowie zwei Flugzeuge – der Clipper und ein kleineres Wasserflugzeug – dümpelten. Gen Osten erstreckte sich ein meilenweiter breiter Sandstrand, und ein Großteil der Passagiere des Clippers saß dort in den Dünen oder spazierte am Ufer entlang.
Die friedliche Szenerie wurde jäh von zwei Autos durchbrochen, die mit quietschenden Reifen vor dem Landungssteg zum Stehen kamen und sieben oder acht Polizisten ausspuckten. Sie eilten auf das Flughafengebäude zu, und Nancy murmelte: »Sieht ganz so aus, als wollten sie jemanden verhaften.«
Mervyn nickte und sagte: »Möchte nur wissen, wen?«
»Frankie Gordino vielleicht?«
»Wohl kaum – der ist ja schon verhaftet.«
Schon kamen die Uniformierten wieder aus dem Gebäude heraus. Drei gingen an Bord des Clippers, zwei an den Strand und zwei weitere die Straße entlang. Es sah ganz so aus, als fahndeten sie nach einer bestimmten Person. Als ein Mitglied der Clipper-Besatzung vorüberkam, fragte Nancy: »Hinter wem sind die denn her?«
Der Mann zögerte, sichtlich unschlüssig, ob er mit der Sprache herausrücken sollte, doch dann zuckte er die Achseln und sagte: »Der Kerl nennt sich Harry Vandenpost, aber das ist nicht sein richtiger Name.«
Nancy runzelte die Stirn. »Das ist doch der junge Mann, der bei den Oxenfords saß.« Ihrem Eindruck nach war Margaret drauf und dran, sich in diesen Harry zu verlieben.
»Stimmt«, meinte Mervyn. »Hat er die Maschine verlassen? Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Ich weiß es auch nicht.«
»Ich dachte mir schon, daß er‘s faustdick hinter den Ohren hat.«
»Wirklich?« Nancy hatte ihn für einen jungen Mann aus guter Familie gehalten. »Er hat ausgezeichnete Manieren.«
»Eben.«
Nancy unterdrückte ein Grinsen: Es schien nur allzu typisch für Mervyn, daß ihm Männer mit guten Manieren mißfielen. »Ich hatte das Gefühl, daß sich Margaret für ihn interessierte. Hoffentlich ist sie nicht allzu verletzt.«
»Ich denke, ihre Eltern werden froh sein, daß sie noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen sind.«
Nancy konnte die Freude der Eltern nicht teilen. Sie alle hatten Lord Oxenfords Ausfälligkeiten im Speisesaal miterlebt; solche Leute verdienten nichts Besseres. Um Margaret dagegen tat es ihr aufrichtig leid, falls sie sich tatsächlich in einen Hallodri verguckt haben sollte.
»Normalerweise bin ich nicht gerade ein sehr spontaner Mensch, Nancy«, fing Mervyn plötzlich an.
Sie war sofort ganz Ohr, und er fuhr fort: »Ich habe dich erst vor wenigen Stunden kennengelernt –
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