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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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anderen Verstecke, auf die Harry kommen könnte, waren der Besatzung bestimmt vertraut.
    Er saß in der Klemme.
    Soll ich abhauen? fragte er sich. Ich kann mich vielleicht von Bord stehlen und am Strand entlang davonmachen – die Chance ist zwar nicht sehr groß, aber immer noch besser, als sich freiwillig zu stellen. Aber selbst wenn ich unerkannt aus dem Dörfchen herauskomme – wohin dann? In der Stadt kann ich mich aus allem herausreden, aber hier sind wir offenbar schrecklich weit von allen Städten entfernt… und auf dem Lande bin ich eine Niete. Ich brauche Menschenmassen, Gassen, Bahnhöfe, Geschäfte. Kanada ist ziemlich groß, glaube ich, und besteht wohl vor allem aus Bäumen…
    Wenn ich mich nach New York durchschlagen kann, ist alles in Ordnung.
    Aber wo kann ich mich solange verstecken?
    Er hörte die Polizisten aus den Flügeln kommen und verschwand zur Sicherheit im Frachtraum…
    … und begriff, daß die Lösung seines Problems vor ihm stand. Lady Oxenfords Schrankkoffer war das ideale Versteck!
    Ob er wohl hineinpaßte? Er glaubte schon. Der Koffer war etwa einsfünfzig hoch und sechzig Zentimeter breit – wäre er leer gewesen, hätten zwei Leute hineingepaßt. Aber natürlich war er nicht leer, und Harry mußte sich zusätzlichen Raum verschaffen, indem er einen Teil der Kleidung herausnahm. Nur – wohin damit? Er konnte sie schlecht einfach herumliegen lassen, sondern mußte sie in seinen eigenen halbleeren Koffer stopfen.
    Er mußte sich sputen.
    Er krabbelte über das aufeinandergestapelte Gepäck und griff nach seinem eigenen Koffer. In fieberhafter Eile öffnete er ihn, stopfte Lady Oxenfords Mäntel und Kleider hinein und mußte sich am Schluß auf den Koffer setzen, damit er zuschnappte. Jetzt konnte er sich in den Schrankkoffer zwängen. Gott sei Dank ließ sich der Koffer leicht von innen schließen. Aber wie verhielt es sich mit der Atemluft, wenn er erst einmal zu war? Nun, dachte Harry, ich werde ohnehin nicht lange im Koffer bleiben, und selbst wenn es stickig werden sollte – überleben werde ich allemal.
    Ob die Bullen bemerken würden, daß die Schließen offenstanden? Durchaus möglich. Ob sie sich von innen schließen ließen? Ein kniffliges Problem, das ihn eine ganze Weile in Anspruch nahm. Wenn er in der Nähe der Schließen Löcher in den Koffer bohren würde, konnte er eventuell sein Messer hindurchstoßen und die Schließen betätigen. Und außerdem würden die Löcher für frische Luft sorgen.
    Er nahm sein Klappmesser heraus. Der Koffer war aus Holz gemacht und mit dunklem grünbraunem Leder bespannt, das mit einem Muster aus goldfarbenen Blumen bedruckt war. Klappmesser hatten üblicherweise eine Spitze, mit der sich Steine aus Pferdehufen kratzen ließen; diese Spitze setzte er nun auf die Mitte einer der Blumen und drückte zu. Das Leder wurde mühelos durchbohrt, nur das Holz bot mehr Widerstand, und er bewegte die Spitze hin und her. Er schätzte, daß das Holz etwa zwei bis drei Zentimeter stark war, und brauchte eine gute Minute, bis er es durchbohrt hatte.
    Er zog die Spitze heraus und stellte befriedigt fest, daß das Loch des Musters wegen kaum zu sehen war.
    Er verkroch sich in dem Koffer. Die Schließe ließ sich von innen sowohl öffnen als auch schließen.
    Insgesamt waren es fünf Schließen, zwei obenauf, drei an der Seite.
    Da die oberen beiden am deutlichsten zu sehen waren, machte er sich zuerst an ihnen zu schaffen. Kaum war er damit fertig, da hörte er erneut Schritte.
    Er verschwand im Koffer und schloß ihn von innen.
    Diesmal war es um einiges mühsamer, die Schließen zu betätigen, und da er nur mit angewinkelten Beinen stehen konnte, bereitete ihm das Manöver besondere Schwierigkeiten – aber er schaffte es.
    Nur wenige Minuten verstrichen, da empfand er seine Lage auch schon als schmerzhaft und unbequem. Er drehte und wendete sich, so gut es ging, doch ohne Erfolg. Aber er mußte es durchstehen, es ging nicht anders.
    Sein eigener Atem kam ihm sehr laut vor, während die Geräusche von draußen nur gedämpft zu ihm durchdrangen. Er konnte jedoch Schritte außerhalb des Frachtraums ausmachen, was vermutlich daran lag, daß es dort keinen Teppich gab und die Schwingungen durch das Deck übertragen wurden. Seiner Schätzung nach mußten derzeit dort draußen mindestens drei Personen stehen. Zwar konnte er nicht hören, ob Türen geöffnet oder geschlossen wurden, spürte jedoch plötzlich näher kommende Schritte und wußte, daß jemand

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