Nacht über den Wassern
befreien konnte, aber zumindest hätten sie sich unterhalten, und vielleicht wären ihnen dabei einige Ideen gekommen.
Er sagte: »Miss, es ist ganz dringend, wo zum Teufel steckt er?« »Darf ich nach Ihrem Namen fragen, Sir?«
»Ich bin Eddie Deakin.«
Sofort gab sie ihren dienstlichen Ton auf. »Oh, hallo, Eddie! Sie waren sein Trauzeuge, nicht wahr? Ich bin Laura Gross, wir haben uns bei seiner Hochzeit kennengelernt.« Sie senkte die Stimme verschwö- 136
rerisch. »Ganz im Vertrauen, Steve war vergangene Nacht nicht im Stützpunkt.«
Eddie stöhnte innerlich. Steve tat etwas, was er nicht sollte – ausgerechnet zur falschen Zeit. »Wann, glauben Sie, kommt er zurück?«
»Er hätte schon vor Tagesanbruch zurück sein sollen, aber er ist nicht aufgetaucht.«
Noch schlimmer – Steve war nicht nur abwesend, sondern steckte möglicherweise obendrein in Schwierigkeiten.
»Ich könnte Sie mit Nella verbinden, sie ist in der Schreibstube«, meinte die Telefonistin.
»Ja, bitte.« Er konnte sich Nella natürlich nicht anvertrauen, aber vielleicht ein bißchen mehr über Steves Verbleib herausfinden. Er wippte ruhelos mit dem Fuß, während er wartete, bis die Verbindung hergestellt war. Er rief sich Nella in Erinnerung: Sie war ein warmherziges Mädchen mit rundem Gesicht und langem Lockenhaar.
Endlich hörte er ihre Stimme: »Hallo?«
»Nella, hier ist Eddie Deakin.«
»Hallo, Eddie. Wo bist du?«
»Ich rufe von England an. Nella, wo ist Steve?«
»Von England! Meine Güte! Steve ist – uh – momentan nicht erreichbar.« Es klang besorgt, als sie hinzufügte: »Ist etwas?«
»Ja. Wann, glaubst du, wird Steve zurück sein?«
»Irgendwann am Vormittag, vielleicht in einer Stunde. Eddie, du klingst so verstört. Was ist los? Steckst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Vielleicht könnte Steve mich hier anrufen, falls er rechtzeitig genug zurückkommt.« Er gab ihr die Telefonnummer von Langdown Lawn.
Sie wiederholte sie. »Eddie, willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Ich kann es nicht. Bitte sorg dafür, daß er mich anruft. Ich bin noch eine Stunde hier, dann muß ich zum Flugzeug – wir fliegen heute nach New York zurück.«
»Ich tu mein Bestes«, versprach Nella mit unsicherer Stimme.
»Wie geht’s Carol-Ann?«
»Ich muß jetzt weg«, sagte er. »Auf Wiedersehen, Nella.« Er hängte ein, ohne auf ihre Frage einzugehen. Das war natürlich unhöflich, aber er war zu aufgewühlt, sich deshalb Gedanken zu machen. Er fühlte sich innerlich völlig verkrampft.
Er wußte nicht, was er tun sollte, also kehrte er auf sein Zimmer zurück, ließ die Tür jedoch einen Spalt offen, damit er das Telefon unten läuten hören konnte. Verzweifelt setzte er sich auf die Bettkante und war zum erstenmal seit seiner Kindheit wieder den Tränen nahe. Er vergrub das Gesicht in den Händen und flüsterte: »Was soll ich tun?«
Er erinnerte sich an die Lindbergh-Entführung. Die Zeitungen waren voll davon gewesen, als er noch in Annapolis war, vor sieben Jahren. Das Kind war getötet worden. »Lieber Gott, bitte beschütz Carol-Ann«, betete er.
Er betete jetzt nicht mehr oft. Gebete hatten seinen Eltern nicht geholfen. Er half sich lieber selbst. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die richtige Zeit, sich auf die Religion zu besinnen. Er mußte alles genau durchdenken und handeln.
Die Männer, die Carol-Ann entführt hatten, rechneten damit, daß Eddie im Flugzeug sein würde, das war klar. Vielleicht sollte er einfach nicht mitfliegen. Aber wenn er es nicht tat, würde er nicht mit Tom Luther zusammenkommen und erfahren, was sie wollten. Er würde ihre Pläne vielleicht durchkreuzen, aber auch die geringste Chance verlieren, die Sache in den Griff zu bekommen.
Schwerfällig stand er auf und öffnete seinen kleinen Koffer. Er konnte an nichts anderes als an Carol-Ann denken, aber er verstaute automatisch sein Rasierzeug, seinen Schlafanzug und seine Wäsche. Abwesend kämmte er sich und packte auch Haarbürste und Kamm ein.
Als er sich wieder setzte, läutete das Telefon.
In zwei Schritten war er aus dem Zimmer. Er hastete die Treppe hinunter, aber jemand hatte den Hörer vor ihm abgenommen. Als er zum Empfang eilte, hörte er die Hotelbesitzerin sagen: »Am vierten Oktober? Einen Moment, ich muß erst nachsehen, ob wir noch etwas frei haben.«
Enttäuscht drehte er sich um. Er sagte sich, daß Steve ja sowieso nichts tun konnte. Niemand konnte etwas tun. Man hatte Carol-Ann entführt, und
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