Nacht über Eden
es mir, als wäre alles nur ein Traum gewesen, ein endlos langer Alptraum… Doch dann sah ich den Rollstuhl, der auf mich wartete, und die auf meinem Kosmetiktisch aufgereihten Medizinfläschchen, Handtücher und Salben. Nein, ich hatte nicht geträumt, alles war wirklich passiert.
Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, daß aus den flauschigen Wattebäuschen eine dunkelgraue Wolkendecke geworden war. Der Nachmittag wirkte dadurch düster und trostlos wie ein Nachklang der Trauerfeier am Morgen… Ich stemmte mich zum Sitzen hoch und goß mir aus dem Krug auf meinem Nachttisch ein wenig Wasser ein. Die Stille um mich herum verwirrte mich. Wo war Mrs. Broadfield? Und wo war Tony? War Drake nach Boston zurückgefahren?
Ich läutete die kleine Glocke, die an einem Bettpfosten hing, und wartete. Niemand kam. Ich läutete erneut, diesmal länger und lauter. Nichts. Hatten sie erwartet, daß ich länger schlafen würde? Anscheinend, dachte ich, aber ich hatte Hunger. Ich hatte das Mittagessen verschlafen, und jetzt war es schon fast Zeit zum Abendessen.
»Mrs. Broadfield?« rief ich.
Eigenartig, daß sie sich nicht in der Nähe meines Zimmers aufhielt. Normalerweise kam sie immer sofort angelaufen, wenn ich mich rührte. Das anhaltende Schweigen bedrückte mich. Ich war ans Bett gefesselt, immer abhängig von anderen… das machte mich wütend. Ich mußte irgend etwas tun, sonst würde dieses Gefühl von Enttäuschung und Ärger mich noch wahnsinnig machen. Entschlossen lehnte ich mich so weit aus meinem Bett hinaus, daß ich nach der Armstütze meines Rollstuhls greifen konnte. Ich würde es ihnen zeigen!
Warum stand der Rollstuhl überhaupt so weit weg, fragte ich mich. Es war fast so, als wollte mich Mrs. Broadfield in meinem Bett gefangenhalten.
Mühsam zog ich den Stuhl zu mir heran und klappte die rechte Armstütze hoch. Ich hatte das, was ich jetzt vorhatte, noch nie zuvor getan, aber ich war sicher, daß ich dazu in der Lage sein würde. Nachdem ich an den Bettrand gerutscht war, zog ich meine Beine nach. Sie waren schwer wie zwei Bleigewichte.
Ich sicherte die Räder des Stuhles, damit er nicht wegrollen konnte, atmete tief durch und stemmte mich aus dem Bett.
Zunächst lag die linke Seite meines Körpers auf dem Stuhl; dann drehte ich mich so, daß mein Rücken die Lehne berührte.
Schließlich stützte ich mich auf die Armlehne auf und zog den völlig passiven unteren Teil meines Körpers langsam hoch, bis ich richtig auf dem Stuhl saß. Der Erfolg gab mir neuen Auftrieb, und ich stellte fest, daß ich meine Beine anheben konnte, wenn ich mit beiden Händen ein Knie hochzog. Ich beförderte meine Füße, die hilflos herumbaumelten, mit einem Schwung auf die Fußstütze. Dann lehnte ich mich vollkommen erschöpft zurück. Aber ich hatte es geschafft! Ich war gar nicht so hilflos, wie sie mich alle immer glauben machten! Ich schloß meine Augen und wartete, bis sich mein pochendes Herz wieder beruhigt hatte.
Erneut lauschte ich auf Geräusche von draußen, doch es war vollkommen still. Ich atmete tief durch und löste die Sicherungen der Räder, so daß ich sie anschieben konnte. Als ich an der Tür angelangt war, machte ich eine Pause und sah mich in meinem Wohnzimmer um. Keine Spur von Mrs.
Broadfield! Keine aufgeblätterten Zeitschriften oder Bücher, nichts.
Ich rollte mich durch das Wohnzimmer in den Korridor. Die Luft war kühler hier draußen; es dämmerte bereits, und die Schatten waren lang und dunkel. Ich fuhr nach links auf die Treppe zu, wo ich eigentlich anhalten und hinunterrufen wollte. Doch dann bekam ich Lust, auf Entdeckungsreise zu gehen, meine neu gefundene Mobilität zu nutzen. Wo war Tonys Schlafzimmer? War es nicht irgendwo in dieser Richtung? Vielleicht war er ja gerade dort und ruhte sich ebenfalls aus! Dieser Gedanke half mir, innerlich ruhiger zu werden, und ich bewegte meinen Rollstuhl weiter. Immer wieder hielt ich an und lauschte, doch nach wie vor war nichts zu hören.
Schließlich kam ich zu einer Doppeltür, die offenstand. Ich stellte fest, daß der Raum, zu dem sie führte, ganz ähnlich eingerichtet war wie mein Wohnzimmer. Eine der Lampen brannte, aber als ich meinem Herzen einen Stoß gab und hineinfuhr, konnte ich niemanden entdecken.
»Tony? Ist hier jemand?«
Wessen Zimmer ist das, fragte ich mich. Es schien nicht das von Tony zu sein. Es paßte eher zu einer Frau. Dann nahm ich einen starken Jasmingeruch wahr. Meine Neugier war nun viel größer als
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