Nacht über Eden
hier.«
»Sie waren auch bei der Trauerfeier da. Ich habe Sie gesehen«, sagte ich in ziemlich scharfem Tonfall. »Warum konnten Sie nicht aus dem Wald kommen und sich zu den anderen Trauergästen gesellen?«
»Oh… ich bin sehr menschenscheu. So«, fügte er hastig hinzu, sichtlich bestrebt, das Thema zu wechseln, »und wie geht es mit deiner Genesung voran?«
»Aber warum wollten Sie dort nicht gesehen werden? Haben Sie Angst vor Tony?«
»Nein.« Er lächelte.
»Dann kann ich nicht verstehen, warum Sie sich hier so… so verstecken.«
»So bin ich eben. Ich glaube, jeder Mensch hat seine Eigenarten. Ich gehöre zu den Menschen, die gerne allein sind.«
»Aber warum?«
»Warum?« Er lachte. »Du läßt nicht locker, wenn du etwas wissen willst, stimmt’s? Genau wie deine Mutter.«
»Ich verstehe nicht, daß Sie so viel von ihr wissen, wenn Sie doch so gerne allein sind.«
Wieder lachte er.
»Ich verstehe vor allem eines: Ich muß bei dir sehr aufpassen, wenn ich meine Geheimnisse für mich behalten will. Also, ich bin gerne allein«, sagte er ruhig, »aber es hat mir sehr gefallen, mit deiner Mutter zusammenzusein, und ich unterhalte mich auch gerne mit anderen Leuten, so wie jetzt mit dir. Und nun erzähle mir, welche Fortschritte deine Beine machen.«
»Gestern bin ich zum ersten Mal nach meinem Unfall ohne Hilfe aufgestanden.«
»Das ist ja wunderbar!«
»Aber der Arzt und Tony sind der Ansicht, daß ich mich nicht überanstrengen soll. Niemand hat mich heute aufgefordert, aufzustehen, und ich habe auch den Gehapparat noch nicht benutzt. Sie bestehen noch immer darauf, daß ich mein Mittagsschläfchen halte und Schlaftabletten nehme. Und sie halten alle anderen Menschen von mir fern. Dies ist das erste Mal, daß ich das Haus verlassen habe, und ich bin jetzt schon fast eine Woche dort! Ich kann nicht einmal jemanden anrufen und ein wenig plaudern. Ich habe nämlich kein Telefon!«
»Wirklich?«
»Meinen Cousin Luke habe ich auch nicht mehr gesehen, seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Dabei habe ich ihm über Tony und Drake Nachrichten zukommen lassen.«
»Drake?«
»Der Halbbruder meiner Mutter.«
»Ach so, der Sohn von Luke senior.«
»Für einen Angestellten von Tony… wissen Sie sehr gut über meine Familie Bescheid«, sagte ich mißtrauisch.
»Ich höre nur aufmerksam zu, was die Menschen um mich herum reden.«
»Was für ein auffallend gutes Gedächtnis Sie haben!« Ich sah ihn scharf an. Er sollte ruhig wissen, daß ich ihm nicht alles glaubte, was er sagte.
Er lächelte wie ein kleiner Junge.
»Und was ist mit Luke passiert?«
»Er hat mich weder angerufen noch besucht. Aber ich habe es geschafft, allein in Tonys Büro zu fahren, und habe Lukes Wohnheim in Harvard angerufen. Doch er war nicht da. So blieb mir nichts anderes übrig, als seinem Mitbewohner eine Nachricht für ihn zu hinterlassen. Dann fuhr ich in den Park.«
»Aha. Nun, ich bin mir sicher, daß er dich dann bald besuchen wird.«
»Ich weiß nicht. Alle sind so anders… Drake ist… verliebt in seine neue Rolle als Geschäftsmann, seit er für Tony arbeitet, und Luke hätte mich früher niemals so vernachlässigt. Wir sind zusammen aufgewachsen und waren uns immer sehr nahe. Ich habe ihm Dinge erzählt, die andere Mädchen niemals einem Jungen erzählen würden, und er hat mir Dinge erzählt, über die andere Jungen niemals mit Mädchen reden würden. Wir hatten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander.« Er nickte nachdenklich.
»Wir sind mehr als nur Cousin und Cousine.« Ich hielt einen Moment lang inne. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, ich könnte die Geheimnisse unserer Familie mit diesem Mann teilen. Ich spürte, daß ich ihm trauen konnte, und fühlte mich so wohl in seiner Gegenwart! Es war, als hätte ich ihn mein Leben lang gekannt. Völlig fremde Menschen in Winnerrow wußten über Luke Bescheid. Warum sollte er es also nicht erfahren? »Luke und ich haben denselben Vater«, stieß ich schließlich hervor.
»So ist das«, sagte er, ließ sich jedoch keinerlei Überraschung angesichts dieser Enthüllung anmerken.
»Sie verstehen das nicht. Niemand kann begreifen, wie bitter das ist«, rief ich aus. »Besonders für Luke. Er mußte mit so vielen Dingen fertigwerden. Immer wieder türmten sich Berge vor ihm auf. Die Menschen können manchmal sehr grausam sein, vor allem in kleinen Städten wie Winnerrow. Sie lassen dich die Sünden nicht vergessen, auch nicht die
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