Nacht über Eden
Vielleicht werden manche Menschen wirklich als Künstler geboren, dachte ich.
»Es tut mir sehr leid, was mit deinen Eltern passiert ist«, sagte er beinahe flüsternd, ohne mich dabei anzusehen.
»Danke.«
Er blickte mich wieder an. »Du kennst also auch den Irrgarten. Jetzt würde ich aber zu gerne erfahren, wie du ihn findest.«
»Er sieht so geheimnisvoll aus.«
»Das ist er auch – jedenfalls für diejenigen, die ihn nicht kennen. Würdest du ihn gerne durchqueren?«
»Durchqueren? Sie meinen… auf die andere Seite?«
»Warum nicht?« Er blickte nach oben, hinauf zu dem blauen Himmel, der hier und dort mit langen, dünnen Wolkenbändern durchzogen war. »Es ist ein wunderbarer Tag für einen Spaziergang. Ich würde dich gerne durch den Irrgarten schieben.«
Ich wollte zuerst ablehnen, obwohl ich gar zu gerne den Irrgarten erforschen und die Hütte mit eigenen Augen sehen wollte. Mr. Brothers war sehr höflich und freundlich, doch schließlich kannte ich ihn ja überhaupt nicht! Was mochten die anderen von mir denken, wenn ich einfach so mit ihm gehen würde, fragte ich mich. Andererseits arbeitete er für Tony, und Tony würde sicherlich ohnehin ungehalten sein, weil ich das Haus verlassen hatte. Ich konnte also ruhig noch einen weiteren Seitensprung wagen.
»In Ordnung«, sagte ich. Er sah, wie ich mich verstohlen umsah.
»Mr. Tatterton weiß nicht, daß du hier draußen bist?«
»Nein, aber das wäre mir auch gleichgültig«, sagte ich.
»Du hast den Charakter deiner Mutter geerbt, wie ich sehe.«
Er trat an meinen Rollstuhl und nahm die Griffe in beide Hände.
»Sie kannten sie gut?«
»Ja. Sogar sehr gut. Sie war ungefähr so alt wie Du, als ich ihr zum ersten Mal begegnete.«
»Soll das heißen, daß Sie die ganze Zeit für Tony gearbeitet und Spielsachen entworfen haben?«
»Ja.« Er befand sich jetzt hinter mir und schob mich, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Seine Stimme jedoch klang noch wärmer.
»Aber ich dachte, Tonys Bruder Troy hätte damals alle Spielsachen entworfen.«
»Oh, das hat er auch. Ich mache seit jeher nur Kopien seiner Entwürfe. Aber immerhin hat er mir alles beigebracht, was ich kann.«
»Ach so.« Ich hatte das Gefühl, daß er es mit der Wahrheit nicht ganz genau nahm. »Haben Sie damals auch in der Hütte gearbeitet oder in einer Fabrik?«
»Sowohl als auch.«
»Wann haben Sie meine Mutter kennengelernt?« Wir kamen dem Eingang des Irrgartens immer näher, und ich wollte reden, damit er meine Angst nicht bemerkte.
»Da sind wir.« Er hörte auf, mich vorwärts zu schieben.
Offensichtlich spürte er meine Furcht. »Bist du dir sicher, daß du wirklich hindurch willst?«
Ich antwortete nicht sofort. Die Hecken waren so hoch und dicht; und der Pfad, der in das Labyrinth führte, schien düster und unergründlich. Was, wenn dieser Mann den Weg doch nicht so genau kannte und wir uns verirrten?
»Sind Sie sicher, daß Sie auch wieder herausfinden?«
Er lachte.
»Mit verbundenen Augen. Vielleicht werde ich das eines Tages tun, nur um dir zu zeigen, daß ich es kann. Aber wenn du Angst hast…«
»Nein, nein, ich will nicht hier stehenbleiben«, sagte ich entschieden, um mir selbst Mut zu machen.
»Dann ist ja alles in Ordnung. Auf geht’s«, sagte er und schob mich vorwärts, auf den großen Irrgarten zu. Ich würde ihn tatsächlich durchqueren! Etwas, wovon ich im Laufe meines Lebens so oft geträumt hatte, würde nun Wirklichkeit werden! Wieder wünschte ich, Luke wäre bei mir. Ich lehnte mich zurück und hielt den Atem an. Und schon waren wir von Mauern umgeben, die mit leuchtend grünem Efeu bewachsen waren.
Es war schön in dem Irrgarten, inmitten dieser meterhohen Hecken, die in exakten rechten Winkeln aufeinandertrafen.
Natürlich brauchten auch sie wie das meiste Grün um Farthy eine Gartenschere und Pflege. Doch es war so dunkel und beruhigend hier drinnen! Ich fühlte, wie die ganze Anspannung des Tages von mir wich…
»Wie findest du es?« fragte er, nachdem wir um die erste Ecke gebogen waren.
»Es ist so ruhig. Ich kann kaum mehr die Vögel zwitschern hören.«
»Ja, diese friedvolle Ruhe – das ist es, was ich an diesem Labyrinth so liebe.«
Ich blickte nach oben. Sogar die klagenden Schreie der Seemöwen über unseren Köpfen wirkten gedämpft. Als wir um die nächste Ecke gebogen waren, blieb der Fremde stehen.
»Sitzt du zu tief unten, um das Dach von Farthy zu sehen?«
»Nein, ich kann es über der Hecke gerade
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