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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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spüren, wie sich seine Augen in meine Seele bohrten. »Deine Mutter hat sehr darunter gelitten, aber sie war eine ungeheuer starke Frau, so wie du es bestimmt auch sein wirst, da bin ich sicher. ›Was mich nicht umbringt, macht mich stark‹, pflegte mein Vater immer zu mir zu sagen.
    Er hatte diese Redewendung von einem deutschen Philosophen übernommen, ich weiß nicht mehr, von welchem. ›Anthony‹
    sagte er immer«, erinnerte sich Tony und nahm die steife Haltung seines Vaters an, »›du mußt aus jeder Niederlage im Leben etwas lernen, oder das Leben wird dich besiegen.‹« Er entspannte sich wieder und lächelte. »Ich war erst fünf oder sechs Jahre alt, als er mir diesen Rat gab, aber seltsamerweise habe ich ihn nie vergessen.«
    »Die Tattertons sind eine faszinierende Familie, Tony.«
    »Oh, ich bin sicher, daß manche meiner Verwandten ziemlich langweilige Menschen sind. Mit der Hälfte meiner Cousins habe ich noch nie ein Wort gewechselt. Trübselige Langweiler.
    Und Jillians Familie war auch nicht viel besser. Ihre beiden Schwestern und ihr Bruder sind schon vor einiger Zeit von uns gegangen. Ich habe es nur erfahren, weil ich zufällig die Nachrufe gelesen habe. Nach Jillians Tod… « Seine Augen wurden glasig, als er sich in dieser Erinnerung verlor.
    »Erzähl mir von deinem Bruder, Tony. Bitte«, warf ich rasch ein. Ich sah, daß sein Gesicht sich verhärtete und ein abweisender Zug in seine Augen trat.
    »Ich sollte dich wirklich ein wenig ausruhen lassen.«
    »Nur ein bißchen. Erzähl mir nur ein kleines bißchen.« Troy beschäftigte mich sehr – vielleicht, weil er nicht mehr hier war und ich immer nur hier und da kleine Bruchstücke über ihn erfahren hatte. Er erschien mir ungeheuer geheimnisvoll.
    »Bitte.«
    Tonys Augen wurden wieder freundlicher, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Dann beugte er sich über mich und strich mir übers Haar – genau wie meine Mutter es immer getan hatte.
    »Wenn du mich auf diese Weise bittest, erinnerst du mich so sehr an Leigh, als sie ein junges Mädchen war. Sie kam oft in mein Büro gestürmt und unterbrach mich bei meiner Arbeit, ganz gleichgültig, wie wichtig das war, was ich gerade tat.
    Dann bat sie mich, mit ihr segeln oder reiten zu gehen. Und es spielte keine Rolle, wie beschäftigt ich war, ich gab immer nach, genau wie jetzt. Die Tatterton-Männer verwöhnen ihre Frauen, aber sie tun es gern«, fügte er mit blitzenden Augen hinzu.
    »Was war mit Troy?« Schweifte er absichtlich ab, oder konnte er einfach nicht anders?
    »Troy. Nun, wie ich dir schon erzählt habe, er war sehr viel jünger als ich. Als kleiner Junge war er so häufig krank, daß ich ihn leider oft als Klotz am Bein empfand, das muß ich zugeben. Verstehst du, unsere Mutter starb, als er noch sehr klein war, und bald darauf starb auch unser Vater. Daher war ich für ihn eher wie ein Vater als wie ein älterer Bruder.
    Er war aber hochintelligent und machte schon im Alter von achtzehn Jahren seinen College-Abschluß.«
    »Schon mit achtzehn Jahren!« rief ich voll Erstaunen aus.
    »Und was hat er dann gemacht?«
    »Er arbeitete in unserem Unternehmen. Er war ein ungemein begabter Künstler und entwarf viele unserer berühmtesten Spielzeuge. So, das war’s für heute«, sagte er hastig.
    »Aber warum hat er Selbstmord begangen, Tony?«
    Seine sanften blauen Augen wurden hart, als seien sie zu Eis erstarrt.
    »Er hat nicht Selbstmord begangen; es war ein Unfall, ein tragischer Unfall. Wer behauptet, es sei Selbstmord gewesen?
    Hat dir das deine Mutter erzählt?«
    »Nein. Sie hat nie von ihm gesprochen«, erwiderte ich und schluckte. Er sah jetzt sehr zornig aus und preßte seine Lippen so fest aufeinander, daß sich eine weiße Linie um sie bildete.
    Diese Veränderung seines Gesichtes ängstigte mich. Er bemerkte das wohl, und seine Züge entspannten sich wieder.
    Jetzt sah er nur sehr traurig aus.
    »Troy war ein melancholischer Mensch, sehr sensibel und schwermütig. Er war fest davon überzeugt, daß er nicht lange leben werde. Er war sehr fatalistisch, was das Leben betrifft.
    Was ich auch tat, ich konnte ihn nicht ändern. Ich spreche nicht gerne von ihm, weil… weil ich mich in gewisser Weise verantwortlich fühle, verstehst du. Ich konnte ihm nicht helfen, ganz gleichgültig, was ich versuchte.«
    »Es tut mir leid, Tony. Ich wollte dir nicht wehtun.« Ich merkte, daß er nicht fähig war, den Gedanken zu ertragen, sein Bruder könne sich umgebracht haben.

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