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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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nicht daran, daß das Essen nicht sorgfältig zubereitet worden wäre.
    Ich war einfach zu traurig und zu müde, als daß es mir hätte schmecken können.
    Als ich gerade den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, hörte ich ein Klopfen an der äußeren Tür. Ich sah auf und erblickte einen älteren Mann. Ich wußte sofort, daß es Rye Whiskey war. Er trug noch seine Küchenschürze und hielt ein kleines Schüsselchen Götterspeise in der Hand.
    »Kommen Sie herein«, rief ich, und er trat langsam näher.
    Seine Augen waren weit aufgerissen; das Weiße um die dunkle Iris leuchtete so hell, als würde dahinter eine Kerze brennen.
    Was er sah, verschlug ihm offensichtlich den Atem.
    »Sie müssen Rye Whiskey sein.«
    »Und Sie sind bestimmt Annie, Heavens Tochter. Als ich Sie von der Tür aus gesehen habe, da dachte ich zuerst, Sie wären ein Geist. Wäre nicht das erste Mal, daß mir so was in diesem Haus passiert.«
    Er senkte den Kopf, um ein paar Gebetsworte zu murmeln.
    Als er wieder aufblickte war sein Gesicht traurig und bekümmert. Ich wußte, was er alles miterlebt hatte: die Flucht meiner Großmutter von ihrem Zuhause, den Wahnsinn meiner Urgroßmutter Jillian und ihren Tod, die Ankunft meiner Mutter, ihren unglücklichen Abschied von Tony Tatterton –
    und nun noch meine tragische Ankunft.
    Seine dünnen Haare waren weiß wie Schnee, aber er hatte ein erstaunlich glattes, fast faltenloses Gesicht und wirkte sehr flink für einen Mann, der meiner Schätzung nach mindestens achtzig Jahre alt sein mußte.
    »Meine Mutter hat oft und voller Zuneigung von Ihnen gesprochen, Rye.«
    »Das höre ich gern, Miß Annie, denn ich mochte Ihre Mama sehr.« Er lächelte breit und nickte, wobei sein Kopf hin und her schnellte, als sei sein Hals eine Sprungfeder. »War das Essen in Ordnung?«
    »Oh, sehr lecker, Rye. Ich habe im Augenblick nur einfach nicht viel Appetit.«
    »Na, der alte Rye wird das schon noch ändern.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, und er nickte wieder. »Und wie kommen Sie zurecht, Miß Annie?«
    »Es ist nicht einfach für mich, Rye.« Merkwürdig, dachte ich, aber es fiel mir so leicht, gleich von Anfang an offen mit ihm zu reden. Vielleicht lag das an der Art, wie meine Mutter über ihn gesprochen hatte, voll Zuneigung und Vertrauen.
    »Hab ich erwartet.« Er wippte auf seinen Fersen. »Ich kann mich gut erinnern, wie Ihre Mama das erste Mal zu mir in die Küche kam. Als wäre es gestern gewesen. Genau wie Sie. Sie hatte so viel Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Mama. Sie kam oft in die Küche und schaute mir stundenlang beim Kochen zu.
    Saß auf einem Hocker, den Kopf in die Hände gestützt, und hat mich mit allen möglichen Fragen über die Tattertons gelöchert.
    Sie war so neugierig wie’n Kätzchen, das in den Wäschekorb geraten ist.«
    »Was wollte sie wissen?«
    »Na, so ziemlich alles, was ich noch über die Familie wußte –
    Onkel, Tanten, Mr. Tattertons Papa und Opa. Naja, und wie in jeder richtigen Familie gab’s Sachen, über die anständige Leute wie ich nicht reden.«
    Welche Sachen? Hätte ich ihn gar zu gerne gefragt, aber ich biß mir auf die Zunge, weil ich noch abwarten wollte. Rye schlug sich mit den Händen auf die Schenkel und seufzte.
    »Gibt’s denn was Besonderes, was ich mal für Sie machen kann?« fragte er, offensichtlich um das Thema zu wechseln.
    »Ich liebe gebratenes Huhn. Unser Koch in Winnerrow macht einen Frittierteig – «
    »Ach, nee… na, Sie haben mein Brathähnchen noch nicht versucht, Kindchen. Ich mach’s diese Woche noch für Sie. Es sei denn, Ihre Krankenschwester verbietet’s.« Er blickte sich um, weil er sich versichern wollte, daß Mrs. Broadfield nicht im Zimmer war. »Sie kommt immer mit ‘ner ganzen Liste von Anweisungen und Verboten in die Küche. Macht Roger, meinen Jungen, ganz nervös damit.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß gebratenes Huhn mir schaden könnte, Rye«, sagte ich und wandte den Blick zum Fenster. »Farthy war viel schöner, als meine Mutter hier lebte, nicht wahr?«
    »Ach, und wie! Also, wenn die Blumen blühten, sah’s aus wie das Tor zum Paradies.«
    »Warum hat Mr. Tatterton es so verfallen lassen?«
    Rye blickte hastig zur Seite. Ich merkte, daß meine Frage ihm unangenehm war; doch dadurch wuchs meine Neugier nur noch.
    »Mr. Tatterton ging’s nicht besonders gut, Miß Annie, aber er hat sich ziemlich verändert, seit Sie hier sind. Er ist wieder fast der Alte – redet davon, daß er dieses

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