Nacht über Eden
Haarsträhnen hingen, silberblonde Strähnen…
Ich nahm die Bürste in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.
»Sie gehörte Heaven«, flüsterte Tony dicht neben mir.
»Damals hatte sie ihr Haar wie Leigh. Sie ließ sich das Haar färben, als sei Leigh durch sie hierher zurückgekehrt, verstehst du das nicht?« fragte er, und seine Augen waren weit aufgerissen und funkelten wild. Mein Herz begann laut zu klopfen. »Das Haar ist… es ist Leighs Haar. Es ist nicht einfach Heavens Haar… Leigh kam zurück. Ich…«
Er bemerkte den erstaunten Ausdruck auf meinem Gesicht und zuckte mit den Schultern. Dann nahm er mir die Bürste aus der Hand und fuhr vorsichtig mit der Fingerspitze über die Haarsträhnen.
»Sie sah so entzückend aus mit diesen Haaren… diese Farbe paßte so gut zu ihr.«
»Ich mochte sie lieber mit dunklen Haaren«, entgegnete ich, aber er schien mich gar nicht zu hören. Er starrte noch eine Weile die Bürste an, dann legte er sie auf den Tisch zurück, als handle es sich um ein wertvolles Museumsstück. Als ich den Wandtisch und den Toilettentisch näher betrachtete, entdeckte ich noch andere persönliche Artikel – Haarnadeln, Spangen, Kämme, sogar zerknüllte Kosmetiktücher, die sich im Laufe der Zeit gelb verfärbt hatten. Manche von den Dingen, die ich da sah, waren sehr intimer Natur.
»Warum hat meine Mutter denn das alles hier gelassen?« Als Tony mir nicht gleich antwortete, wandte ich mich um und sah, daß er auf mich herunterblickte, den Mund zu einem halben Lächeln verzogen. »Tony?« Er starrte mich weiter schweigend an. »Tony, was ist los?« Ich drehte meinen Rollstuhl um, damit ich ihn anschauen konnte… Meine Bewegung weckte ihn aus der Trance, in der er versunken war.
»Oh, entschuldige bitte. Als du da gerade so in deinem Rollstuhl saßest… da sah ich plötzlich Heaven an dem Frisiertisch sitzen, in ihrem Nachthemd, wie sie ihre Haare bürstete, ehe sie ins Bett ging.«
Wie merkwürdig dachte ich. Warum war er in Mammis Zimmer gewesen und hatte ihr zugeschaut, wenn sie sich fürs Schlafengehen fertigmachte? Das war doch eher etwas, was ein Ehemann bei seiner Frau tat, und nicht ein Stiefgroßvater bei seiner Stiefenkelin. Er sprach von Mammi, als wäre sie Jillian, die Ehefrau, die er verloren hatte. Es war gespenstisch.
Vielleicht war er kurz davor, den Verstand zu verlieren…
»Du hast ihr zugeschaut, wenn sie schlafen ging?« Ich konnte nicht anders, ich mußte fragen.
»O nein, ich kam nur manchmal vorbei und klopfte, und während ich in der Tür stand, beantwortete sie meine Fragen oder unterhielt sich mit mir und bürstete dabei ihre Haare«, sagte er hastig; viel zu hastig, dachte ich. Als ob er ein schlechtes Gewissen hätte…
»Oh. Aber Tony, warum hat meine Mutter so viel zurückgelassen, als sie von Farthy wegging?« Auf dem Seitentisch standen immer noch ihre Puderdosen, Parfüms, Eaux de Cologne und Haarsprays.
»Sie hatte alles in zweifacher Ausführung, damit sie nicht immer so viel packen mußte, wenn sie nach Winnerrow reiste«, erklärte Tony, aber seine Antwort kam wieder so rasch, daß ich mich fragte, ob er die Wahrheit sagte.
»Es sieht eher so aus, als sei sie von hier geflohen, Tony«, meinte ich. Er sollte wissen, daß ich seine Erklärung nicht akzeptierte. Ich rollte näher zu ihm hin. »Warum ist sie so plötzlich weggegangen, Tony? Kannst du es mir denn nicht jetzt erzählen?«
»Aber Annie, bitte – «
»Nein, Tony, ich muß dir sagen, daß ich sehr zu schätzen weiß, was du alles für mich und für Drake getan hast, aber ich mache mir Sorgen, weil ich weiß, wie das Verhältnis zwischen dir und meiner Mutter zum Schluß war. Manchmal habe ich das Gefühl, daß du Dinge vor mir verbirgst, schlimme Dinge, die mich vertreiben könnten.«
»Aber du darfst nicht denken – «
»Ich weiß nicht, ob ich länger hierbleiben kann, ohne die Wahrheit zu kennen, gleichgültig, wie unangenehm oder schmerzlich diese Wahrheit für mich sein mag«, beharrte ich.
Sein scharfer, durchdringender Blick ruhte sehr nachdenklich auf mir. Er blinzelte kurz, als ob er eine rasche Entscheidung träfe, und nickte dann.
»In Ordnung. Vielleicht hast du recht; vielleicht ist die Zeit gekommen. Du wirkst heute viel stärker, und ich leide unter der Feindseligkeit, die zwischen deiner Mutter und mir bestanden hat. Außerdem möchte ich nicht, daß es zwischen uns Geheimnisse gibt, die uns einander entfremden, Annie.«
»Dann erzähl mir
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