Nacht über Eden
senkte den Kopf. So verharrte er lange Zeit. Und plötzlich tauchte aus dem Wald der geheimnisvolle Mann auf und näherte sich ihm.
Er trat neben Tony und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Ich konnte den Blick nicht abwenden, und mein Herz klopfte wild. Tony blickte nicht auf. Nach kurzer Zeit entfernte sich der Mann wieder und verschwand in der Dunkelheit des Waldes. Dann stand Tony auf und ging zurück zu seinem Auto.
Es war, als wüßte nur ich, daß der Mann neben ihm gestanden hatte. Ich konnte es kaum erwarten, bis Tony zu mir käme! Ungeduldig fuhr ich mit dem Rollstuhl in den vorderen Teil meines Schlafzimmers und blickte zur Tür.
Fast zwei Stunden vergingen, und Tony kam immer noch nicht. Dabei wollte ich ihn unbedingt nach dem Mann auf dem Friedhof fragen! Ich überlegte, ob ich ihn rufen sollte, aber ich dachte, meine Neugier sei zu nebensächlich, um ihn deswegen zu behelligen. Er kommt jeden Augenblick, sagte ich mir immer wieder, aber die Uhr tickte immer weiter, und er kam nicht. Was hatte Roland immer gesagt, wenn ich ungeduldig war? »Wenn man zuschaut, kocht das Wasser nie.«
Ich versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, und ging die Bücher durch, die Tony in mein Zimmer hatte bringen lassen. Es waren alles Romane von Schriftstellern, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Autoren aus dem 19.
Jahrhundert, so zum Beispiel ein gewisser William Dean Howells. Manche Bücher wurden als »historische Romane«
bezeichnet, andere als »Sittenromane«. Es war, als wollte Tony, daß ich in einer längst vergangenen Epoche lebte.
Endlich kam er. Ich war mittlerweile wahnsinnig vor Neugier. Sofort fragte ich ihn nach dem Mann auf dem Friedhof.
»Was für ein Mann?« Tonys Lächeln gefror auf seinem Gesicht, und die Wärme, die es zuvor ausgestrahlt hatte, war augenblicklich verschwunden.
»Ich habe beobachtet, wie er neben dich trat, als du am Grabmal meiner Eltern standest.«
Tony stand in der Tür und sah erstaunt drein, als hätte ich ihn aus einem Traum geweckt. Dann atmete er tief durch und lächelte.
»Oh, ich vergesse immer wieder, daß du von deinem Fenster aus den Familienfriedhof sehen kannst.« Er zuckte die Schultern. »Das war einer von den Gärtnern. Um ehrlich zu sein, ich war in dem Augenblick so in meine Trauer versunken, daß ich gar nicht mehr weiß, welcher es war und was er von mir wollte.«
»Einer von den Gärtnern? Aber Rye Whiskey hat gesagt – «
»Also dann«, rief Tony heiter und klatschte in die Hände, »es ist Zeit für deine erste Tour durch Farthy. Mrs. Broadfield meinte, du hättest es verdient. Bist du bereit?«
Ich blickte wieder aus dem Fenster zum Friedhof hinüber.
Wolken, so dünn und lang wie die Finger einer Hexe, verhüllten die Sonne und warfen Schatten auf das Grabmal meiner Eltern.
»Ich würde gerne auf den Friedhof gehen, Tony.«
»Sobald der Arzt einverstanden ist. Morgen, hoffen wir. In der Zwischenzeit zeige ich dir etwas ganz Besonderes, gleich hier in der Nähe.«
Er trat zu meinem Stuhl und umschloß die Griffe mit den Händen. Warum sagte er mir nicht die Wahrheit über den Mann? Hatte er Angst, die Wahrheit würde mich beunruhigen?
Wie konnte ich ihn dazu bringen, ehrlich zu sein? Vielleicht wußte Rye Bescheid.
Ich spürte Tonys warmen Atem auf der Stirn, und er drückte einen zarten Kuß auf mein Haar. Diese zärtliche Liebkosung überraschte mich, und ich hatte das Gefühl, daß er mir das ansah.
»Es ist so schön, so wunderschön, daß du hier bist und daß ich dich mit mir in die Vergangenheit zurücknehmen kann – «
»Aber ich bin krank, Tony, krank und gelähmt.«
Offensichtlich hörte er mir gar nicht zu.
» – um all die herrlichen Erinnerungen wiederzufinden und wieder glücklich zu sein! Nur wenigen Menschen ist dies vergönnt… «
Er begann mich aus dem Zimmer zu schieben.
»Wohin gehen wir?«
»Das erste, was du sehen sollst, sind die Räume, die ich für deine Eltern vorbereitet hatte, als sie zu ihrem Hochzeitsempfang nach Farthy kamen. Sie waren so verliebt und turtelig, wie es Frischvermählte sein sollten.«
Ich hatte oft versucht, mir vorzustellen, wie Mammi und Daddy aussahen, als sie sich gerade kennenlernten. Ich wußte, sie waren einander das erste Mal begegnet, als Daddy nach Winnerrow gezogen war. Mammi hatte mir erzählt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Aber von beglückenden Erinnerungen an Farthy hatte sie nie gesprochen. Ich war sicher, daß es solche Erinnerungen
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