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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Spiegel zu blicken.
Titten und Zähne
.
Du bekommst keine zweite Chance, um einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen
. Wochenende auf einem Landsitz, das war der Look, für den sie sich entschieden hatte. Tarnung war immer eine ihrer Stärken gewesen. Das war einer der Gründe dafür, dass sie in ihrem Beruf so gute Arbeit leistete. Sich anpassen, »eine von uns« zu werden, auf wen immer das »uns« sich beziehen mochte, war ein notwendiges Übel. Wenn sie also unter Brodie Grants aristokratischem Dach schlief, musste ihr Aussehen auch dieser Rolle entsprechen. Sie zupfte das karierte Kleid von Black Watch zurecht, das sie sich von Vivianne geliehen hatte, überprüfte, ob ihre Pumps tadellos glänzten, strich sich das rabenschwarze Haar hinter ein Ohr zurück und öffnete leicht lächelnd die roten Lippen. Ein Blick auf ihre Uhr bestätigte, dass es Zeit war, hinunterzugehen und herauszufinden, was die fabelhafte Susan Charleson organisiert hatte.
    Als sie um die Biegung der breiten Treppe kam, musste sie einem kleinen Jungen ausweichen, der hinaufstürmte. Er brachte auf dem Treppenabsatz seine schlenkernden Gliedmaßen unter Kontrolle, keuchte »Entschuldigung« und sauste weiter nach oben. Bel blinzelte und hob die Augenbrauen. Es war zwei Jahre her, seit sie zuletzt ein ähnliches Zusammentreffen mit einem kleinen Jungen gehabt hatte, und es hatte ihr seitdem kein bisschen gefehlt. Sie ging weiter, bevor sie jedoch unten angelangt war, kam eine Frau in buttergelber Cordhose und dunkelroter Bluse schwungvoll an der Treppenspindel vorbeigelaufen, blieb dann aber plötzlich überrascht stehen. »Oh, tut mir leid, falls ich Sie erschreckt habe«, entschuldigte sie sich. »Sie haben wohl keinen kleinen Jungen hier vorbeikommen sehen, oder?«
    Bel wies mit dem Daumen über die Schulter. »Er ist da rauf.«
    Die Frau nickte. Jetzt, da sie näher gekommen war, sah Bel, dass sie gut zehn Jahre älter war, als sie zuerst gedacht hatte, Ende dreißig mindestens. Schöne Haut, dichtes rotbraunes Haar und eine gepflegte Figur trugen zu der Illusion bei. »Ein Monster«, seufzte die Frau. Sie trafen sich zwei Stufen über dem Fuß der Treppe. »Sie müssen Annabel Richmond sein«, sagte sie und hielt ihr eine schlanke Hand entgegen, die trotz der behaglichen Wärme in den dicken Mauern des Schlosses kalt war. »Ich bin Judith, Brodies Frau.«
    Natürlich. Wie hatte Bel sich vorstellen können, dass ein Kindermädchen so perfekt gepflegt aussehen könnte? »Lady Grant«, begrüßte sie sie und wand sich dabei innerlich.
    »Nennen Sie mich Judith, bitte. Selbst nach all den Ehejahren mit Brodie fühle ich mich immer noch, als müsste ich mich nach einer anderen Person umsehen, wenn mich jemand Lady Grant nennt.« Sie klang, als sagte sie das nicht aus falscher Bescheidenheit.
    »Und ich bin Bel, vom Namen in der Verfasserzeile mal abgesehen.«
    Lady Grant lächelte, aber ihr Blick suchte schon die Treppe weiter oben ab. »Also, Bel. Hören Sie, ich kann mich im Moment nicht aufhalten, ich muss ein Monster einfangen. Ich sehe Sie beim Essen.« Und schon war sie weg, zwei Stufen auf einmal nehmend.
    Bel, die sich im Vergleich zur Schlossherrin von Rotheswell zu vornehm angezogen vorkam, ging auf den mit Steinplatten ausgelegten Fluren zu Susan Charlesons Büro zurück. Die Tür stand offen, und Susan, die gerade am Telefon war, winkte sie herein. »Gut. Danke, dass Sie das in die Wege geleitet haben, Mr.Lees.« Sie legte den Hörer auf, kam um den Schreibtisch herum und führte Bel wieder zur Tür zurück. »Sie kommen genau im richtigen Moment«, meinte sie. »Er liebt Pünktlichkeit. Gefällt Ihnen das Zimmer? Haben Sie alles, was Sie brauchen? Funktioniert der Internetanschluss?«
    »Alles ist perfekt«, antwortete Bel. »Auch eine schöne Aussicht.« Sie fühlte sich, als sei sie in eine BBC -2-Serie geraten, und ließ sich wieder durch das Labyrinth der Flure geleiten, deren Wände Fotografien schottischer Landschaften in Postergröße zierten. Sie waren auf Leinwand gedruckt, um gemalten Bildern zu ähneln. Bel war überrascht, wie behaglich man sich fühlte. Aber andererseits war dies auch nicht ganz das, was sie sich unter einem Schloss vorstellte. Sie hatte etwas wie Windsor oder Alnwick erwartet. Rotheswell war jedoch eher ein befestigtes Herrenhaus mit Türmchen. Das Innere ließ einen mehr an ein Landhaus als an einen mittelalterlichen Bankettsaal denken. Beachtlich, aber nicht so einschüchternd, wie sie

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