Nacht unter Tag
befürchtet hatte.
Als sie vor einer hohen zweiflügeligen Bogentür aus Mahagoni anhielten, begann sie zu bedauern, dass sie nicht daran gedacht hatte, Brotkrumen zu streuen.
»Da sind wir«, sagte Susan, öffnete eine der Türen und führte Bel in einen mit dunklem Holz getäfelten Billardraum, dessen Fensterläden geschlossen waren. Das einzige Licht kam von einer Reihe Lampen über dem großen Tisch. Als sie hineingingen, sah Sir Broderick Maclennan Grant vom Tisch auf, wo er gerade den Queue auf eine Kugel gerichtet hatte. Sein dichter Schopf silbergrauer Haare fiel ihm erstaunlich jungenhaft in die breite Stirn, die Augenbrauen waren silbrige Bollwerke über so tiefliegenden Augen, dass man nur versuchen konnte, ihre Farbe zu erraten. Seine wie ein Papageienschnabel geformte Nase und der lange dünne Mund über einem kantigen Kinn betonten sein auffälliges Aussehen. Die Beleuchtung unterstrich die Wirkung seiner eindrucksvollen Erscheinung.
Bel wusste, was man von Fotos erwarten konnte, deshalb war sie fast erschrocken über die energiegeladene Ausstrahlung, die in seiner Gegenwart zu spüren war. Sie hatte schon häufiger mächtige Männer und Frauen getroffen, dieses unmittelbare Charisma aber nur wenige Male gespürt. Sie verstand sofort, wie Brodie Grant sein Imperium aus dem Nichts hatte aufbauen können.
Er richtete sich auf und stützte sich auf den Billardstock. »Miss Richmond, nehme ich an?« Seine Stimme war tief und fast heiser, als habe er sie nicht genügend benutzt.
»Das stimmt, Sir Broderick.« Bel war nicht sicher, ob sie näher treten oder stehenbleiben sollte.
»Danke, Susan«, sagte Grant. Als die Tür hinter ihr geschlossen war, wies er auf zwei abgenutzte Ledersessel, die zu beiden Seiten eines behauenen Marmorkamins standen. »Nehmen Sie doch Platz. Ich kann spielen und währenddessen reden.« Er setzte wieder zu einem gezielten Stoß an, während Bel einen der Sessel etwas drehte, damit sie ihn besser sehen konnte.
Sie wartete zwei Stöße ab, und zwischen ihnen wuchs die Stille wie eine bedrohlich ansteigende Flut. »Dies ist ein sehr schönes Haus«, meinte sie schließlich.
Er stöhnte. »Ich mache keinen Small Talk, Miss Richmond.« Nach einem schnellen Stoß stießen zwei Bälle knallend wie ein Pistolenschuss zusammen. Er trug Kreide auf die Queuespitze auf und betrachtete sie genau. »Sie fragen sich wahrscheinlich, wie in aller Welt Sie das geschafft haben. Direkte Tuchfühlung mit einem Mann, der für seine Verachtung von Medienaufmerksamkeit berüchtigt ist. Gute Leistung, was? Na ja, tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, aber Sie hatten einfach nur Glück.« Als er um den Tisch herumging und stirnrunzelnd die Position der Kugeln musterte, bewegte er sich, als sei er zwanzig Jahre jünger.
»So bin ich zu manchen meiner besten Storys gekommen«, erwiderte Bel gelassen. »Beim Journalismus ist ein großer Teil eben Glück, man muss die Fähigkeit haben, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Ich habe kein Problem mit dem Glück.«
»Dann ist es ja gut.« Er studierte die Kugeln und legte den Kopf einen Moment lang schief, um sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. »Sie wundern sich also nicht, wieso ich mich entschlossen habe, nach so vielen Jahren mein Schweigen zu brechen?«
»Doch, natürlich. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass die Gründe, weshalb Sie jetzt reden wollen, viel mit dem zu tun haben werden, was ich letzten Endes schreibe. Es ist also mehr persönliche als berufliche Neugier.«
Er hielt bei der Vorbereitung auf einen Stoß inne, richtete sich auf und starrte sie mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte. Entweder war er wütend oder neugierig. »Sie sind nicht das, was ich erwartet hatte«, stellte er fest. »Sie sind zäher, als ich dachte. Das ist gut.«
Bel war daran gewöhnt, von den Männern ihrer Umgebung unterschätzt zu werden. Sie war weniger daran gewöhnt, dass jemand diesen Fehler zugab. »Da haben Sie verdammt recht. Ich bin beharrlich. Ich verlasse mich nicht darauf, dass andere meine Kämpfe für mich ausfechten.«
Er wandte sich ihr direkt zu, stützte sich auf den Tisch und legte die Arme auf den Queue. »Ich mag es nicht, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen«, erklärte er. »Aber ich bin realistisch. Damals, 1985, war es für jemanden wie mich möglich, einen gewissen Einfluss auf die Medien auszuüben. Als Catriona und Adam entführt wurden, haben wir zum größten Teil bestimmt, was
Weitere Kostenlose Bücher