Nacht
Gesicht vor tief herabhängenden Ästen zu schützen, hielt ich mir den linken Unterarm vor die Stirn. Dann ging ich zögernd und vorsichtig in den Wald hinein. Schließlich wusste ich nie, wo ich als Nächstes hintreten würde. In der dichten, heißen Luft zwischen den Bäumen war die Abkühlung, die mir mein Bad im Bach verschafft hatte, rasch verflogen. Hier im Inneren des Waldes regte sich kein Lüftchen.
Keine Ahnung, wo Judy war.
Ich wusste nur, dass ihre Schreie von irgendwo tief im Wald gekommen waren.
Langsam ging ich in diese Richtung und versuchte, dabei möglichst wenig Lärm zu machen.
Die Suche
Ich stellte ziemlich schnell fest, dass meine Suche reine Zeitverschwendung war. Selbst wenn ich bis zum Morgengrauen durch den Wald lief, würde ich Judy nur dann finden, wenn sie sich irgendwie bemerkbar machte.
Millers
Woods
hatte
eine
Ausdehnung
von
vielen
Quadratkilometern, die abzusuchen für eine einzelne Person völlig unmöglich war. Judy konnte einen Kilometer weit weg im Norden oder im Süden sein, vielleicht lag sie aber auch nur fünf Meter neben mir in einem Gebüsch.
Nur mit einer gehörigen Portion Glück konnte ich sie auf diese Weise finden.
Und konnte man dann überhaupt noch von Glück reden?
Vielleicht war ich viel besser dran, wenn ich sie nicht fand.
Falls ihre Hilfeschreie nur gespielt waren, wartete eine Falle auf mich, und falls sie echt waren, würde ich mich möglicherweise mit dem auseinandersetzen müssen, was sie zum Schreien gebracht hatte.
Auch wenn ich Judy nicht fand, könnte es mich finden.
Es oder er.
Vermutlich er.
Die meisten Ungeheuer sind männlich.
Jeden Augenblick konnte er sich von hinten auf mich stürzen, mich fortschleifen und mir Dinge antun, die mich genauso zum Schreien bringen würden wie Judy.
Wenn er mich aus dem Hinterhalt erwischte oder wenn er nicht allein war, würde mir meine Pistole nicht viel nützen.
Ich wusste genau, was es bedeutete, wenn man von hinten überfallen wurde. Wenn man geschlagen, gequält und von vorne und hinten von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Ich kannte das alles.
Nur eines kannte ich noch nicht: Wie es ist, wenn man hinterher umgebracht wird.
Aber fast.
Immerhin hatte man mich schon einmal liegen gelassen, weil man geglaubt hatte, ich sei tot. Aber sie hatten sich getäuscht.
Okay, ich erzähle es Ihnen. Eigentlich hatte ich es nicht vorgehabt, aber was soll’s? Warum soll ich ein Geheimnis daraus machen?
Es ist passiert, als ich achtzehn Jahre alt war und mit einer Reifenpanne auf einem Highway bei Tucson liegen blieb. Ich war allein und versuchte, den Reifen zu wechseln, aber dann hielten drei Männer in einem Pick‐up an und wollten mir »helfen«. Diese Hilfe war nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte. Sie fuhren mit mir in die Wüste und haben mich dort die ganze Nacht lang
»genommen«, was nichts anderes bedeutete, als dass sie mit mir alles anstellten, was ihnen in ihre großen, hässlichen Köpfe kam. Als sie ihren »Spaß« gehabt hatten, hielten sie mich für tot. Sie hoben ein Grab aus, warfen mich hinein und schaufelten es wieder zu, und dann stiegen sie wieder in ihren Pick‐up und fuhren weg. Nur weil ich auf dem Bauch gelegen hatte und deshalb unter meinem Gesicht noch etwas Luft zum Atmen gewesen war, blieb ich am Leben. Und hätten die faulen Kerle ein tieferes Grab ausgehoben und sich vielleicht sogar die Mühe gemacht, große Steine darauf zu legen, dann hätte ich mich, als ich wieder das Bewusstsein erlangte, nicht selbst befreien können. Eine Familie, die mit ihrem Jeep einen Ausflug in die Wüste machte, hat mich schließlich gerettet.
Wenn man mal so etwas durchlitten hat, kann einen eigentlich nichts mehr schrecken, möchte man meinen.
Aber soll ich Ihnen was sagen?
Genau das Gegenteil ist der Fall. Mich schreckt so gut wie alles.
Bestimmt kennen Sie das geflügelte Wort: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, und in gewisser Weise stimmt das auch. Meine schlimmen Erlebnisse haben mich tatsächlich stärker gemacht, aber ich bin trotzdem immer ängstlicher geworden.
Und so kam es, dass ich, während ich durch den dunklen Wald ging und nach Judy suchte, vor Angst am ganzen Körper zitterte. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien und wäre nach Hause gerannt.
Darüber hinaus war es auch alles andere als einfach, in völliger Dunkelheit durch den Wald zu gehen. Schließlich bewegte ich mich durch eine Art Wildnis und nicht in einem
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